Full text: Lesebuch für die Oberstufe (Teil 3, [Schülerband])

⸗ P. Aus der Natur. 
190. Aus Goethes Tierepos: 
„Reineke Fuchs“. 
Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten und blühten 
Feld und Wald — auf Hügeln und Höh'n, in Büschen und Hecken 
übten ein fröhliches Lied die neu ermunterten Vögel; 
jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen; 
festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde. 
Nobel, der König, versammelt den Hof, und seine Vasallen 
eilen gerufen herbei mit großem Gepränge; da kommen 
viele stolze Gesellen von allen Seiten und Enden: 
Lütke, der Kranich, und Markart, der Häher, und alle die Besten. 
Denn der König gedenkt, mit allen seinen Baronen 
Hof zu halten in Feier und Pracht; er läßt sie berufen 
alle miteinander, so gut die großen als kleinen. 
Niemand sollte fehlen — und dennoch fehlte der eine, 
Reineke Fuchs, der Schelm, der viel begangenen Frevels 
halben des Hofs sich enthielt. So scheuet das böse Gewissen 
Licht und Tag; es scheute der Fuchs die versammelten Herren. 
Alle hatten zu klagen; er hatte sie alle beleidigt, 
und nur Grimbart, den Dachs, den Sohn des Bruders, verschont' er. 
Und es ließ der König darauf die Klügsten berufen, 
Rat mit ihnen zu halten, wie er den Frevel bestrafte, 
der so klärlich vor ihn und seine Herren gebracht war. 
Und sie rieten zuletzt, man habe dem listigen Frevler 
einen Boten zu senden, daß er um Liebes und Leides 
nicht sich entzöge; er solle sich stellen am Hofe des Königs 
an dem Tage des Herrn, wenn sie zunächst sich versammeln. 
Braun, den Bären, ernannte man aber zum Boten. Der König 
sprach zu Braun, dem Bären: „Ich sag' es, Euer Gebieter, 
daß Ihr mit Fleiß die Botschaft verrichtet; doch rat' ich zur Vorsicht. 
Denn es ist Reineke falsch und boshaft; allerlei Listen 
wird er gebrauchen; er wird Euch schmeicheln, er wird Euch belügen, 
hintergehen, wie er nur kann.“ — „Mit nichten,“ versetzte 
zuversichtlich der Bär; „bleibt ruhig! Sollt' er sich irgend 
nur vermessen und mir zum Hohne das Mindeste wagen, 
seht, ich schwör' es bei Gott, der möge mich strafen, wofern ich 
ihm nicht grimmig vergälte, daß er zu bleiben nicht wüßte.“ 
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