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über eine halbe Million Einwohner, Deutsche, Italiener, Ungarn u. s. w.
die vielen, besonders orientalischen Fremden abgerechnet, welche sich
fortwährend in Wien des ausgedehnten Handels wegen aufhalten und
in ihren eigentümlichen Nationaltrachten ein buntes Farben- und
Formengemisch der Kleidung auf den Straßen zur Schau tragen.
Auf die innere Stadt kommt indes nur der zehnte Teil jener Bevöl—
kerung.
Wien ist reich an großen, prachtvollen Palästen und andern
Gebäuden, welche mit geschmackvollen Läden oft ganze Straßen ein—
nehmen. Doch unter allen tritt ein Bauwerk ganz besonders hervor:
es ist die Stephanskirche mit ihrem 134 Meter hohen Turme. Diese
herrlichste Kirche Wiens ist zugleich eine der schönsten in der Welt
und ein vorzügliches Denkmal altdeutscher Baukunst. Sie ward 1144
angefangen und in der Mitte des 15ten Jahrhunderts vollendet. Ein
Reisender beschreibt uns dieses prachtvolle Werk menschlicher Kunst
also: „Vor uns steht der altersgraue Dom in seiner ganzen ehrwürdigen
Pracht mit der Riesenpyramide. Der ganze Bau ist aus Sandstein—
quadern aufgetürmt, und doch erscheint er uns mit seinen zahllosen
Gipfeln wie ebenso viele Blütenzweige und frische Sprossen — und mit
seinem durchbrochenen Laubwerk, aus welchem plötzlich abenteuerliche
Tiergestalten hervorspringen, mit jenem ungeheuern Stamme, dessen
Blütenkrone, der Sonne frei aufgeschlossen, Kreuz und Adler trägt,
wie ein Wald, dessen tausend Stämme unten an der Wurzel an einan⸗
der gewachsen sind; und treten wir in sein Inneres, so belebt das
in Farben gesplitterte Licht jenes steinerne Volk von Engeln, Heiligen,
Blutzeugen und Fürsten. Blicken wir zu den schlanken Schäften empor,
die hoch oben, dem Auge fast unkenntlich, die Äste in einander schlingen,
so wähnen wir uns in ein fernes Wunderland versetzt. Dazu prangt
im Sonnenscheine das Dach im Farbenglanze seiner glasierten bunten
Ziegel.“
Der geeignetste Punkt, die ganze Kaiserstadt zu überblicken, ist
die Spitze des Wienerberges im Süden der Stadt, wo eine Säule von
altdeutscher, kunstreicher Arbeit steht, die sogenannte Spinnerin am
Kreuze. Von ihren Stufen aus bietet sich uns das reichste und schönste
Rundgemälde dar, welches derselbe Reisende in folgender Weise
schildert: „Das Getümmel der Hunderttausende, welche die Straßen
durchwimmeln, schallt nur gedämpft, wie das ferne Brausen des
Meeres, an dein Ohr herauf. Die zahllosen Bauten unter dir stehen
an und in einander gedrängt wie ein Volk, das im Anschauen von
Kampfspielen zu Stein wurde, und mitten daraus ragt, wie ein in