war ich aus dem Grabesgeheimnisse herausgetreten und hatte die
Terrasse der Kirche erstiegen, von welcher man ganz Jerusalem über—
sehen kann. Da lag sie vor mir, die Stadt der Jahrtausende, und
erschien mir wie eine Witwe in ihrer Trauer. Die Jahrhunderte,
welche auf ihr liegen, die vor Alter sinkenden Olbäume, die Grab—
male mit den weißen Steinen, die durchlöcherten Felsen, das zerstreute
Gemäuer, alles erinnert an die schweren Begebnisse, die diese Stadt
erlitten hat.
„Sehen Sie,“ sagte mein Führer, „dieser Weg, der zur Grabes—
kirche führi, ist der Schmerzensweg.“ Hier ist kein Stein und keine
Platte, die nicht Zeugen einer großen Begebenheit wären. Dieser
Raum hat den Heiligsten gesehen in aller seiner Schmach, ihn, den
Verurteilten und Leidenden, den Dorngekrönten und unter der Last
des Kreuzes zum Tode Geführten. Welch heilige Erinnerungen sind
mit diesen Steinen eingebaut; wie viele tausend Herzen seit Konstantins
und Helenas Zeit haben über diesen Anblick geblutet und sind, von
diesem Anblicke getröstet, wieder von dannen gezogen! — „Dort im
Süden liegt Bethlehem,“ sprach der Führer weiter. Bethlehem, die
anmutigste unter den Städten! Sie liegt so friedlich auf dem Berge,
und die hohe Sonne schaut so ruhig auf sie, daß ich mich nicht
erinnere, icgendwo einen Ort gesehen zu haben, der mit solcher An—
mut solch? Majestät verbände. — Dort zur Linken, zwischen den
Hügeln, dehnt sich das Tal der Hirten; eng und still liegt es zwischen
den Bergen, und nur wenige Bäume begrenzen seinen Saum. Dort
haben in der heiligen Nacht die Heerscharen des Himmels zuerst den
Ärmsten unter dem Volke das neue Heil verkündet. Viele Klöster er—
heben sich über die Häuser von Bethlehem, und die Kuppel, welche
am höchsten hervorragt, gehört der durch die Kaiserin Helena erbauten
Kirche an, welche über der heiligen Grotte steht, wo Christus geboren ist.
„Wie heißt die Burg dort,“ fragte ich meinen Vegleiter, „welche
nur einige hundert Schritte von hier auf dem Gipfel jenes Hügels
steht?“ „Das ist die Davidsburg auf Zion,“ sagte eintönig der
Führer. Hier hat der Mann gewohnt, der größte seiner Zeit, der
ein Prophet war, ein Dichter und ein König. Von hier aus konnte
er Jerusalem beschauen und ungestört des Flusses strömende Welle,
das stille, grünende Tal, die Terebinthen und Olivenbäume be—
trachten, wie sie die Häupter der Hügel schmücken. — Gegen Süd—
osten liegen vor dem Auge des Beschauers das Tal Josaphat, die
Moschee auf Moriah und weiterhin der Kessel des Toten Meeres.
Kein Anblick vermag die Seele mit so trüben Gedanken zu erfüllen
Leseb. f. lath. Oberll.
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