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welche zu jeder Zeit des Jahres reiche Früchte lieferten, umgürteten
im lieblichsten Wechsel den See wie die kostbare Einfassung einen
köstlichen Edelstein. Gegen zwölfhundert Fischer fanden hier ihre Nah—
rung; dritthalbhundert Fahrzeuge, Fischerkähne, Reisebarken, lustfah⸗
rende Gondeln und Lafsschiffe durchkreuzten den Wasserspiegel nach
allen Richtungen und machten ihn zum gemeinsamen Tummelplatze
aller umliegenden Städte und Dörfer. Hier war der heitere, ge—
segnete Schauplatz der Wirksamkeit des Herrn. In Kapernaum hatte
er seine Wohnung. Hier erlas er sich mit seinem durchdringenden
Blicke und Geiste, der wohl wußte, was im Menschen war, aus der
geschäftigen Menge die tüchtigsten feiner Apostel; hier und im ganzen
Umkreise dieser Gestade warf der erhabene Menschenfischer unermüdet
das Netz seiner herzgewinnenden Rede und seines holdfeligen Wesens
aus, in den Schulen und Häusern, auf den blühenden Uferhügeln und
vom Bord des Schiffes, vor dem Schmerzenslager der Kranken und
vor den Schreckensklüften der Besessenen.
Jetzt trauert die reizvolle Landschaft wie eine Witwe. Von Ka⸗
pernaum, „das bis an den Himmel erhoben war“, von Chorazin und
Bethsaida t keine Spur zu finden. Die Wälder und Weingärten sind
von den Hügeln verschwunden; Palmen⸗, Feigen- und Olivenbäume
stehen nur noch vereinzelt umher; die Balsamstaude, welche vormals
die feinsandigen, kiesreichen Ufer des Sees umgrünte, findet sich nir—
gends mehr, und statt jener Hunderte von Fahrzeugen zieht jeßt ein
einziges Boot mit weißem Segel von Zeit zu Zeit seine Furche durch
den Spiegel des stillen Gewässers, um von dem östlichen Gestade
Holz nach Tiberias herüberzuholen. An der Stelle der Fischer treibt
nur noch der Pelikan sein einsames Geschäft, jener Wasservogel, den
man in altchristlichen Bildwerken häufig dargestellt findet, wie er seine
Brust aufreißt, um die Jungen mit seinem Herzblute zu tränken.
Ferdinand Bäßler.
225b. Nazareth.
Ein jäher Hohlweg führte uns in den Felsenkessel hinab, in
welchem Nazareth wie begraben liegt, und freundliche Christengesichter
sahen uns aus allen Häufern neugierig an und grüßten uns mit einer
gewissen Herzlichkeit und mit einer Miene, als wollten sie sagen: „Ihr
dürft nicht denken, daß wir Moslim sind; wir sind Christen wie ihr;
es wird euch bei uns gefallen.“ Wie wohl war uns, daß wir in der
Stadt dessen, der nicht hatte, wohin er sein Haupt legte, in dem latei—
nischen Kloster ein heimisches Ruheplätzchen und in dem Vorsteher des
Klosters einen treuherzigen Tiroler fanden, mit dem sich in jeder Be⸗
ziehung deutsch reden ließ! Der folgende Tag war der Tag des Herrn;
er brachte süße Ruhe für Leib und Seele— Nachdem wir alle die
heiligen Orte gesehen hatten, welche die klösterliche Überlieferung auf—
weist, eilten wir zur engen, winkeligen Stadt hinaus und die freien
Berge hinan, die ja unbezweifelt diefelben waren wie damals, als der
Herr hier wandelte. Eine große Anzahl nazarethischer Frauen und