18. Morgenlied. — 19. Morgenstille.
18. Morgenlied. J. AI.
Übersetzung von Friedrich v. Schiller.
1. Verschwunden ist die finstre Nacht;
Die Lerche schlägt; der Tag erwacht;
Die Sonne kommt mit Prangen ——
Am Himmel aufgegangen.
2. Sie scheint in Königs Prunkgemach;
Sie scheinet durch des Bettlers Dach,
Und was in Nacht verborgen war,
Das macht sie kund und offenbar.
Lob sei dem Herrn und Dank gebracht,
Der über diesem Haus gewacht,
Mit seinen heil gen Scharen —
Uns gnädig zu bewahren!
. Wohl mancher schloß die Augen schwer
Und öffnet sie dem Licht nicht mehr;
Drum freue sich, wer neubelebt
Den frischen Blick zur Sonn erhebt!
19. Worgenslille.
Heinrich Stahl.
Noch umhüllt die Nacht mit ihrem düstern Schleier die weite Welt
und Schlaf und Schweigen ruhen auf der Flur. Nur das Bächlein
rauscht unaufhaltsam dahin; eine Welle küßt die andere, daß sie alle
wach und bereit sind, den Morgensegen zu beten in ihrer Weise. Dann
eilen sie rascher dem Walde zu; die Bäume schütteln die Nachtruhe
aus ihren Zweigen und neigen sich leise zu freundlichem Gruße. Da
plötzlich stimmt die Nachtigall den Frühpsalm an. Das Echo wird laut,
lrägt den süßen Hall von Busch zu Busch und erweckt die Vöglein, die
noch schliefen, und die Lerche, die zum Himmel steigt, den Morgenstern
zu grüßen. Rosig, wie das Antlitz eines blühenden Kindes, erglüht der
Himmel; sein Auge wird klar und ein Strahl seines Lichtes dringt in
die Tefen, daß die Schatten weichen und die Nebel fliehen. Die Morgen⸗
sonne tritt hervor aus goldumsäumter Wolke; glührote Pfeile zucken
auf und nieder und wecken Tauesblitze, wenn sie dahinfahren durch
duftige Wiesen. Dann erhebt sich das Gras; die Blumen richten sich
empor und schauen mit Dankestränen im Auge ins holde Sonnen⸗
angesicht. Jetzt ist die ganze Schöpfung wach; nur der Mensch ruht
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