Full text: Oldenburger Volksschullesebuch für Oberklassen

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sehr altes Datum,“ redete er mich plötzlich an; „ich habe schon längst gewußt 
daß dies Schreiben unterwegs war. Ihre beschränkte Zeit hat vermutlich 
einen frühern Besuch verhindert?“ — Ich stotterte eine Entschuldigung hervor 
daß ich es nämlich nicht gewagt, einen so thätigen Geschäftsmann zu stören 
und daß ich auch jetzt nur im höchsten Notfall — er ließ mich nicht aus— 
reden. „Sie sind mir übrigens sehr dringend empfohlen. Wenn ich etwas für 
Sie thun kann, so sprechen Sie frei; Fremde haben oft dies oder jenes An⸗ 
liegen.“ — Jetzt war es Zeit, von der tiefen Ebbe meiner Börse zu 2 
aber — o der falschen Scham! — die Worte wollten mir nicht über die 
Zunge. — „Also nicht?“ fuhr jener fort; „nun, ein andermal. onnmen 
Sie doch Sonntag auf meinen Garten vor dem Dammthore, und essen Sie 
einen Löffel Suppe mit mir. Der Geschäftsmann ist an den Wochentagen 
mit seiner Zeit sehr beschränkt und kann der bloßen Unterhaltung nur wenig 
Zeit widmen.“ Da hatte ich meine Abfertigung. Und doch konnte ich nicht 
ohne Geld fort; denn ich saß auf dem Trocknen und mußte reisen. B 
diesem Augenblicke war ein Commis mein Retter, der sich zwischen mich und 
die Barriere schob, um dem Prinzipal eine eben eingegangene telegraphische 
Depesche zu überreichen. Alsobald ward das Schreiben gebrochen und gelesen. 
Es mußte eine sehr freudige Nachricht sein; denn ein behagliches Lächeln spielte 
um die Lippen des Kaufmanns. Aber plötzlich, als hätte er sich auf einer 
Schwäche ertappt, verschwand dieses wieder, und er legte mit gewohnter Ruhe 
den Brief beiseite; dabei fiel sein Blick auf mich: „Noch etwas zu Befehl/ 
mein Herr?“ 
Jetzt mußte ich reden, es koste, was es wolle. — Ich trat dicht an d 
Barriere, neigte meine Lippen zu den Ohren des Kaufmanns und strömt 
einen Schwall von Worten aus, unter denen ich das Wort „Geldverlegenheit 
am meisten betonte. Der Kaufmann sah mich mit einem seltsamen Blicke an 
dann nahm er das überbrachte Schreiben, las es noch einmal aufmerksan 
durch, schrieb einige Zeilen darunter und überreichte es mir: „Hier, m 
Herr; haben Sie die Güte, diese Zeilen bei meinem Kassierer zu präsentier 
Sonntag rechne ich also darauf, Sie an meinem Tische zu sehen; für jeb 
entschuldigen Sie mich gefälligst.“ 
Ich verbeugte mich stumm und stand bald darauf vor dem Manne, d 
von eisernen Geldschränken umgeben war. Er nahm mein Kreditiv (Anweisur 
zur Erhebung von Geld) in die Hand und sagte: „Sie haben hierauf 100 Mar 
Courant zu empfangen; wollen Sie gefälligst quittieren? Hier ist Ihr Geldl 
— „Und hier, mein Herr, ist Ihre Quittung!“ rief ich mit erleichterter Brust 
strich die Summe ein und eilte aus dem Comptoir in die freie Gottesluft 
hinaus, der Alsterhalle zu, noch voll der eben erlebten Vorgänge. 
Smidt. 
198. Des Sängers Fluch. 
1. Es stand in alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr; 
Weit glänzt' es über die Lande bis an das blaue Meer; 
Und rings von duft'gen Gärten ein blütenreicher Kranz, 
Drin sprangen frische Brunnen im Regenbogenglanz. 
2. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich; 
Er saß auf seinem Thlone so finster und so bleich; 
Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut, 
Und was er spricht, ist Geißel. und was er schreibt, ist Blut.
	        
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