Full text: Oldenburger Volksschullesebuch für Oberklassen

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haftes Weib war, sammelte sie sich bald und faßte Mut. „Ich rief dich nur,“ 
sprach sie, „meine Kinder schweigen zu machen; nun sie ruhig sind, bedarf 
ich deiner nicht; sei bedankt für deinen guten Willen.“ — „Weißt du auch. 
entgegnete der Geist, „daß man mich hier nicht ungestraft ruft? Ich halte 
dich beim Wort, gieb mir deinen Schreier, daß ich ihn fresse; so ein leckerer 
Bissen ist mir lange nicht vorgekommen.“ Darauf streckte er die rußige Hand 
aus, den Knaben in Empfang zu nehmen. 
Wie eine Gluckhenne, wenn der Weih hoch über dem Dache in den Lüf— 
ten schwebt oder der schäkerhafte Spitz auf dem Hofe hetzt mit ängstlichem 
Glucksen vorerst ihre Küchlein in den sichern Hühnerkorb lockt, dann ihr Ge— 
fleder emporsträubt, die Flügel ausbreitet und mit dem stärkeren Feinde einen 
ungleichen Kampf beginnt, so siel das Weib dem schwarzen Köhler wütig in 
den. Bart, ballte die kräftige Faust und rief: „Ungetüm! das Mutterherz 
mußt du mir erst aus dem Leibe reißen, ehe du mir mein Kind raubest.“ 
Eines so mutvollen Angriffs hatte sich Rübezahl nicht versehen; er wich 
gleichsam schüchtern zurück; dergleichen handfeste Erfahrung in der Menschen— 
kunde war ihm noch nie vorgekommen. Er lächelte das Weib freundlich an: 
„Entrüste dich nicht; ich bin kein Menschenfresser, wie du wähnest, will dir 
und deinen Kindern auch kein Leids thun; aber laß mir den Knaben, der 
Schreier gefällt mir. Ich will ihn halten wie einen Junker, will ihn in Sammet 
und Seide kleiden und einen wackern Kerl aus ihm ziehen, der Vater und 
Brüder einst nähren soll. Fordere hundert Schreckenberger, ich zahle sie dir.“ 
„Ha!“ lachte das rasche Weib, „gefüllt Euch der Junge? Ja, das ist 
ein Junge wie'n Daus! Der wäre mir nicht um aller Welt Schätze feil.“ 
„Thörin!“ versetzte Rübezahl, „hast du nicht noch drei Kinder, die dir 
Last und Überdruß machen? Mußt sie kümmerlich nähren und dich mit ihnen 
placken Tag und Nacht.“ 
Das Weib. Wohl wahr! Aber dafür bin ich Mutter, muß thun, was 
meines Berufs ist. Kinder machen Überlast, aber auch manche Freude. 
Der Geist. Schöne Freude, sich mit den Bälgen tagtäglich zu schleppen, 
sie zu gängeln, zu säubern, ihre Unart und ihr Geschrei zu ertragen! 
Sie. Wahrlich, Herr, Ihr kennt die Mutterfreuden wenig! Alle Arbeit 
und Mühe versüßt ein einziger freundlicher Anblick, das holde Lächeln und 
Lallen der kleinen, unschuldigen Würmer. Seht mir nur den kleinen Gold— 
jungen da, wie er an mir hängt, der kleine Schmeichler! Nun ist er's nicht 
gewesen, der geschrieen hat. Ach, hätte ich doch hundert Hände, die euch heben 
und tragen und für euch arbeiten könnten, ihr lieben Kleinen! 
Der Geist. Sol hat denn dein Mann keine Hände, die arbeiten 
bennen⸗ 
Sie. O ja, die hat er; er rührt sie auch, und ich fühl's zuweilen. 
Der Geist (aufgebrach). Wie? dein Mann erkühnt sich, die Hand gegen 
dich aufzuheben ) gegen solch ein Weib? Das Genick will ich ihm brechen, 
dem Mörder! 
Sie (lachend). Da hättet Ihr traun viel Hälse zu brechen, wenn alle 
Männer mit dem Halse büßen sollten, die sich an der Frau vergreifen. 
Der Geist. Was treibt dein Mann für ein Gewerbe? 
Sie. Er ist ein Glashändler, muß sich seinen Exrwerb auch lassen sauer 
werden. Schleppt der arme Tropf die schwere Bürde aus Böhmen herüber, 
jahraus jahrein. Wenn ihm nun unterwegs ein Glas zerbricht, muß iche 
und die armen Kinder freilich entgelten; aber Liebesschläge thun nicht weh.
	        
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