Full text: Oldenburger Volksschullesebuch für Oberklassen

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unermüdet stürmte er fort von der Bahn herab in die engen Straßen der 
Stadt, sprang über Gossen und Beischläge und stand endlich atemlos still am 
Eingang des Kirchhofs zu St. Marien. 
Die Kirche zu St. Marien war ein altehrwürdiges Gebäude und eine 
Zierde der Stadt Vlissingen. Ihr schlanker Turm ragte hoch empor und 
wies sich schon in weiter Ferne den ansegelnden Schiffen als ein freundliches 
Wahrzeichen. Jetzt war der Turm bis fast zur Spitze mit einem Gerüste 
umgeben, und viele Maurer und Zimmerer waren beschäftigt, die schadhaften 
Stellen auszubessern. Die Mittagsglocke läutete, die Gesellen und Handlanger 
kletterten die Leiter herab, um sich mit Speise und Trank zur zweiten Hälfte 
des Tagewerks zu stärken. Sie drängten dem Ausgange zu, wo Michael an 
n Pfeiler lehnte, und hießen ihn mit barschen Worten aus dem Wege 
gehen. 
Verwirrt vom wilden Laufe trat er schweigend bei Seite und drängte sich 
an den Mauervorsprung, um ihren forschenden Blicken zu entgehen. Da tob— 
ten seine Verfolger heran, lärmend und schreiend: „Haltet den Dieb! Haltet 
den Dieb!“ 
„Oho!“ sprach der vorderste der Gesellen, „habt ihr's gehört? Ein Dieb 
wird verfolgt! Frisch, nehmt euch zusammen! Wohin ist der Kerl gelaufen, 
den ihr sucht?“ 
Zu euch, zu euch!“ rief der erste der Verfolgenden, ein schäbiger Bursche, 
der etwas von der Physiognomie eines entsprungenen Sträflings hatte. „Es 
ist einer von unserer Werft! Ich bitte euch, haltet ihn für mich! Es setzt 
einen freien Tag für den, der ihn bringt.“ 
„Dann ist's dieser Junge da,“ sprach der Geselle, sich umwendend, und 
wies auf Michael de Ruyter. „Frisch, Pieter! Greif ihm an die Gurgel und 
wirf ihn den Leuten über die Mauer zu. So jung und schon ein Dieb! 
Warte, dein Galgen ist auch bald gezimmert.“ 
„Ich bin kein Dieb und lasse mich nicht greifen!“ sagte Michael, noch 
atemlos der Kirche zueilend, während seine Verfolger sich über die niedrige 
Kirchhofsmauer schwangen und die Gesellen, beide Arme in die Seite gestemmt, 
der Verfolgung wie einem Schauspiele zusahen. 
„Seht nur, wie er sich um die Gerüste schlängelt!“ sagte einer der Ge— 
sellen; „gebt acht, er wird sich gleich die Nase an der Mauer zerquetschen!“ 
Scheint mir nicht,“ antwortete ein anderer; „er hat die Leiter erreicht 
und steigt schnell empor. Donnerwetter! der Junge mag ein Dieb sein oder 
nicht, aber das Klettern versteht er!“ 
„Oho!“ rief ein dritter, „da sind sie schon am Fuße der Leiter, und er 
ist noch nicht zur Hälfte hinauf. Seht, wie sie hinter ihm herfliegen! Der ist 
geliefert! Viele Hunde sind des Hasen Tod.“ 
„Nein, nein! er ist doch oben! Er hat's doch gewonnen! Hurra! 
Warum bückt er sich denn nun wieder und macht nicht, daß er weiter kommt? 
Junge, sieh dich vor!“ 
„Was macht er denn da? Wahrhaftig, er hat das Tau gelöst, womit 
wir das Ende der Leiter befestigt haben! Kopf weg! es giebt ein Unglück!“ 
In der That hatte Michael die Leiter losgemacht, die unterwärts mit 
Menschen bedeckt hin und her schwankte; er lief mit dem daran geknüpften 
Tau nach einer Seite und riß es so heftig an sich, daß die Leiter sich 
neigte und mit sämtlichen darauf stehenden Leuten auf das Steinpflaster nie— 
derftürzte.
	        
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