314 Prosa. — Schulrede.
Farben sind dem Maler nothwendig, aber er braucht sie zum Gemälde; als
dann erst erfreuen sie das Auge und unterrichten die Seele. Lassen Sie uns
sehen, was das Wort Geographie uns schon seinem Namen nach sage.
Es heißt Erdbeschreibung: sonach ist die Kenntnis der Erde, über⸗
haupt die physische Geographie vor allem nothwendig, eine Kenntnis, die so
wichtig als leicht und angenehm unterhaltend ist. Wer wird das wunderbare
Haus nicht kennen lernen wollen, in dem wir wohnen? den abwechselnden
Schauplatz, auf den uns die schaffende Güte und Weisheit zu setzen für gut
gefunden Die Erde also, eine Kugel, als einen Planeten kennen zu lernen, fich
die allgemeinen Gesetze bekannt zu machen, nach denen sie sich um sich selbst und
un die Sonne bewegt, und wie dadurch Tage und Jahre, Klimate und Re—
gionen auf ihr werden, dies alles mit der Faßlichkeit und Würde vorgetragen
die der große Gegenstand fordert: wenn das nicht den Geist erhebt und erweckt,
was sollle ihn exheben und erwecken? Es giebt einem edlen Jüngling einen
Theil jener erhabenen Freude, die wir fühlen, wenn wir Scipio's Traum beim
Cicero lesen oder eine erhabene Musik hören; denn diese Kenntnisse sind eine
wahre Musik des Geistes. Aus der größten Einheit von Naturprincipien wird
eine ungemessene Reihe von geographischen Folgen sichtbar, die wir täglich
empfinden und genießen, und von denen doch seder Verständige Aufschluß wün—
schet. So wie ich von einem Jüngling einen schlechten Begriff hätte, der 3. B
Fontenellens Gespräch von mehr als einer Welt ohne Vergnügen läse: so
müßte es eine menschenähnliche Bildsäule sein, die bei den großen Gesetzen, die all⸗
gemein auf unserim Erdboden herrschen, und wodurch er das, was er ist, ward
ungerührt bliebe. Lebenslang werden mir die Zeiten aus der Morgenrbthe
meines Lebens auch im Andenken ein angenehmer Traum bleiben, da meine
Seele diese Kenntnis zuerst empfieng, und ich über die Grenzen meines Ge
burtslandes hinaus in die weite Welt Gottes, in welcher unser Erdboden
schwimmt, entzückt ward.
Der Planet, den wir bewohnen, theilt sich in Erde und Wasser; jene steht
wie ein Berg hervor, zu dessen beiden Seiten Ströme rinnen:; dies ist das
große Verhältnis von Wasser, aus dessen Dünsten, durch die Luft geläutert und
durch die Höhen der Berge angezogen, die Quellen aller Fruchtbarkeit und
Nahrung der Erde werden. Welche Fülle von schönen und nützlichen Kennt
nissen, die in dieser Betrachtung ruhen d Wenn der Jüngling in Gedanken jene
hohen Erdrücken besteigt und ihre sonderbaren Phänomene kennen lernt, wenn
sodann mit den Flssen hinab in die Thäler wandert, endlich an die Ufer
des Meeres kommt und überall andere Geschöpfe an Mineralien, Pflanzen
Thieren und Menschen gewahr wird; wenn er einsehen lernt, daß, was ihm in
der Gestalt der Erde sonst Chaos war, auch seine Gesetze und Ordnung hat,
wie hiernach und nach den Gesetzen des Klima Gestalten, Farben, Lebensarten,
Sitten und Religionen wechseln und sich verändern, und ungeachtet aller Ver—
schiedenheit das Menschengeschlecht doch allenthalben ein Brudergeschlecht ist, von
einem Schöpfer erschaffen, von einem Vater entsprossen, nach einem giel
der Glückseligkeit auf so verschiedenen Wegen ringend und strebend — o, wie
wird sich sein Blick erheben, wie wird sich seine Seele erweitern! Indem —
die mancherlei Producte der Erde, die mancherlei Gattungen der Schoͤpfung in
diesem oder jenem Klima, die mancherlei Denkarten, Gebräuche, Lebensweisen
seiner Mitbrüder, der Menschen, kennen lernt, die alle mit ihm das Licht eine!
Sonne genießen und einerlei Gesetzen des Schicksals gehorchen: wahrlich so muß
ihm die Geographie das reizendste Gemälde voll Kunst, Anlagen, Abwechselung,