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VI. Die zweite Blütezeit der deutschen Dichtung.
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f. An Aestner.
Frankfurt, den 21. November 1774.
Da hab ich Deinen Brief, Kestner! An einen: fremden Pult, in eines
Malers Stube; denn gestern fing ich an, in Ol zu malen, habe Deinen Brief
und muß Dir zurufen: Tank! Dank! Lieber! Du bist immer der Gute! —
O könnt' ich Dir an Hals springen, mich zu Lottens Füßen werfen, eine, eine
Minute, und all, all das sollte getilgt, erklärt sein, was ich mit Büchern
Papier nicht aufschließen könnte! — O Ihr Ungläubigen, würd' ich ausrufen!
Ihr Kleingläubigen! . . . Könntet Ihr den tausendsten Teil fühlen, was
Werther tausend Herzen ist, Ihr würdet die Unkosten nicht berechnen, die Ihr
dazu hergebt! Da lies ein Blättchen und send mir's heilig wieder, wie Du's
hier drin hast! — Bruder, lieber Kestner! Wollt Ihr warten, so wird Euch
geholfen. Ich wollt' um meines eignen Lebens Gefahr willen Werthem nicht
zurückmfen, und glaub' mir, glaub' an mich, Deine Besorgnisse, Deine Grava-
mina schwinden wie Gespenster der Nacht, wenn Du Geduld hast, und dann —
binnen hier und einem Jahr versprech' ich Euch, auf die lieblichste, einzigste,
innigste Weise alles, was noch übrig sein möchte von Verdacht, Mißdeutung
PP. im schwätzenden Publikum, obgleich das eine Herde Schweine ist, aus¬
zulöschen, wie ein reiner Nordwind Nebel und Duft. — Werther muß — muß
sein! — Ihr fühlt ihn nicht, Ihr fühlt nur mich und Euch, und was Ihr angeklebt
heißt — und trutz Euch — und andern — eingewoben ist — Wenn ich noch lebe,
so bist Du's, dem ich's danke — bist also nicht Albert — Und also —
Gib Lotten eine Hand ganz warm von mir und sag' ihr: Ihren Namen
von tausend heiligen Lippen mit Ehrfurcht ausgesprochen zu wissen, sei doch
ein Äquivalent gegen Besorgnisse, die einem kaum ohne alles andere im ge¬
meinen Leben, da man jeder Base ausgesetzt ist, lange verdrießen würden.
Wenn Ihr brav seid und nicht an mir nagt, so schick' ich Euch Briefe,
Laute, Seufzer nach Werthem, und wenn Ihr Glauben habt, so glaubt, daß
alles wohl sein wird und Geschwätz nichts ist.-
g. An feine Mutter.
Weimar, den 9. August 1779.
Mein Verlangen, Sie einmal wiederzusehen, war bisher immer durch die
Umstände, in denen ich hier mehr oder weniger notwendig war, gemäßigt.
Nunmehr aber kann sich eine Gelegenheit finden, darüber ich aber vor allem
das strengste Geheimnis fordern muß. Der Herzog hat Lust, den schönen Herbst
am Rhein zu genießen, ich würde mit ihm gehen und der Kammerherr Wedel.
Wir würden bei Euch einkehren, wenige Tage dableiben, um den Meßfreuden
auszuweichen, dann auf dem Wasser weiter gehn. Dann zurück kommen und
bei Euch unsre Stätte aufschlagen, um von da die Nachbarschaft zu besuchen.
Wenn Sie dieses prosaisch oder poetisch nimmt, so ist dieses eigentlich das
Tüpfchen aufs i Eures vergangenen Lebens, und ich käme das erste Mal ganz
wohl und vergnügt und so ehrenvoll als möglich in mein Vaterland zurück.
Weil ich aber auch möchte, daß, da an den Bergen Samariä der Wein so
schön gediehen ist, auch dazu gepfiffen würde, so wollt' ich nichts, als daß Sie
und der Vater offne und feine Herzen hätten, uns zu empfangen und Gott