Prosa. — Pragmatische Geschichtsauffätze. 83
ter sein sollte, vor so vielen Leuten, und konnte es doch nicht verschweigen.
Aber der Wirth sagte: „Wenn das so ist, gute Frau, so laßt herzhaft eure
Bagage abladen ab dem Postwagen, und erlaubt mir, daß ich morgen in aller
Fruhe ein Kaleschlein anspannen lasse und euch hinausführen zu eurem Herrn
Sohn in das Lager.“ Am Morgen, als sie in das Lager kam und den General
sah, ja, so war es ihr Sohn, und die junge Frau, die gestern mit ihm geredet
halte, war ihre Schwiegertochter, und das Kind war ihr Enkel. Und als der
Beneral seine Mutter erkannte und seiner Gemahlin sagte: „Das ist sie!“ da
küßten und umarmten sie sich, und die Mutterliebe und Kindesliebe, und
die Hoheit und di⸗ Demuth schwammen in einander und gossen sich in Thränen
aus und die gute Mutter blieb lange in ungewöhnlicher Rührung, fast weniger
darüber, daß sie heute die Ihrigen fand, als darüber, daß fie sie gestern schon
esehen hatte — Als der Wirih zurückkam, sagte er, „das Geld regne zwar
lrgends durch das Kamin herab, aber nicht zweihundert Franken nähme er
darum, daß er nicht zugesehen hätte, wie die gute Mutter ihren Sohn erkannte
und sein Glück sah; “ und der Hausfreund sagt: „Es ist die schönste Eigen—
schaft weitaus im menschlichen Herzen, daß es so gerne zusieht, wenn Freunde
dder Angehörige unverhofft wieder zusammen kommen, und daß es allemal dazu
lächeln vder vor Rührung mit ihnen weinen muß, nicht ob es will.“
od. Anekdote.
35. W. v. Goethe: Ein Besuch bei Gottsched.
(Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.)
„„Schlosser wollte nicht Leipzig verlassen, ohne die Männer, welche Namen
hatten, von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Ich führte ihn gern zu
denen mir bekannten; die noch nicht von mir besuchten lernte ich auf diese
Veise ehrenvoll kennen, weil er als ein unterrichteter, schon charalterisierter
Mann mit Auszeichnung empfangen wurde und den Aufwand des Gesprächs
echt gut zu bestreiten wußte. Unsern Besuch bei Gottsched darf ich nicht über—
en indem die Sinnes⸗ und Sittenweise dieses Mannes daraus hervortritt.
r wohnte sehr anständig in dem ersten Stock des goldenen Bären, wo ihm
Nr ältere Breitkopf wegen des großen Vortheils, den die Gottschedischen Schriften,
lebersebungen und sonstigen Assistenzen der Buchhandlung gebracht, eine lebens—
lngliche Wohnung pugesagt haue.
¶ wWir ließen uns melden. Der Bediente führte uns in ein großes Zimmer,
indem er sagie, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine Geberde,
die er machte, nicht recht versianden wußte ich nicht zu sagen; genug, wir glaubten,
habe uns in das anstoßende Zimmer gewiesen. Wir traten hinein zu einer
nderbaren Scene; denn in dem Augenblick trat Gottsched, der große breite
liesenhafte Mann, in einem gründamastenen, mit rothem Taft gefütterten Schlaf
ok zur entgegengesetzten Thür herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl
ind ohne Bedeckung. Dafüt sollte jedoch sogleich gesorgt sein; denn der Be—
diente sprang mit einer großen Allongeperücke auf der Hand (die Locken fielen
is an den Ellenbogen) zu einer Seitenthür herein und reichte den Hauptschmuck
einem Herrn mit erschrockner Geberde. Goltsched, ohne den mindesten Verdruß
ju äußern, hob mit der linken Hand die Perucke von dem Arme des Dieners,
und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten
Tatze dem amen Menschen eine A daß dieser, wie es im Lustspiel zu
eschehen pflegt, sich zur Thür hinaus wirbelte, worauf der ansehnliche Altvater