Full text: Lesebuch für die Oberklassen evangelischer Elementarschulen in Elsaß-Lothringen

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Stilülmngcu uns Aufsñtze. 
Geburtstage", .Das Kreuz", „Die Vielheit 
und ManchfalligkeU der Geschöpfe", „Ver¬ 
gänglichkeit alles Irdischen", „Der Tod", 
„Unglaube", „Unsterblichkeit". 
§. 20. Entwickelung. 
Unter Entwickelung verstehen wir hier 
die Erläuterung, Begründung und möglichst 
allseitige Entfaltung und Belebung ein«: all¬ 
gemeinen Wahrheit oder Idee, die in irgend 
einer treffenden, fruchtbaren Form ausge¬ 
sprochen ist. Sie bildet also gleichsam die 
Variationen zu einem gegebenen Thema, das 
Zweig- und Laubwerk zu einem Stamme. 
Es find dieses d e ergiebigsten und an- 
gemessensten Aussätze für die höhere. Bildungs¬ 
stufe; denn sie nehmen 1. den ganzen Menschen 
in Anspruch, und 2. doch nur m so weit, 
als der persönliche Slaitdpunkt des Einzelnen 
reicht. Stoss, Gehalt ilnd Form fließen gairz 
in einander über, weil der Stoff sich lediglich 
nach dem inneren Gehalte'des Schreibenden 
richtet, und wiederum der innere Gehalt nicht 
zun: Vorschein kommen kann ohne den Reich¬ 
thum der Darstellung. Der Geist muß gleich¬ 
sam alles hergeben, was er an formalem 
Gehalt in sich trägt, muß den vollen Höhepunkt 
sestees gesummten Denkens und Anschauens, 
wie sich derselbe ans innerenr und äußerem 
Erlebniß, aus Ahnung und Mittheilung ge¬ 
bildet hat, einnehmen, um das Geb et der 
gegebenen Wahrheit zu überschauen und sie 
selbst wieder zu einer neuen Sttife zu machen, 
von welcher sich die Aussicht für ihn erweitert; 
daher empfängt er in demselben Grade, als 
er gibt, d. h er findet immer neue Wahrheit, 
indein er die gegebene zu verstehen und zu 
begründen sucht. Es sind dieses vorzugsweise 
die Aufsätze, wovon wir oben sagten, 'daß 
jedesmal ein inneres Wachsthum des Ver¬ 
fassers damit verbunden sei, und daß sie 
ein Abbild von der gesammten Gestalt und 
Habe des Geistes abgäben. Es sind nicht 
Probleme, die gelös't, nicht Fragen, die be- 
antivortet werden sollen; sondern es sind 
Pforten der Wahrheit, durch die einer ein¬ 
tritt, aber nur so weit sieht, als sein Blick 
trägt und als er mit gewollter Anstrengung 
Stufen besteigt. Ulster dem Scheine, gleichsam 
nur der geistigeil Originalität eines anderen 
zu dienen, entwickelt sich die schönste eigene 
Originalität. Denn es ist, ivie Goethe sagt, 
„das schönste Zeichen der Originalität, wenn 
man killen empfangenen Gedanken dergestalt 
fruchtbar zu entwickeln weiß, daß, wie viel 
in ihm verborgen liege, niemand leicht ge¬ 
funden hätte". Dieser eigenthümliche Reich¬ 
thum gewinnt, je enger man sich an die 
bestimmte individuelle Form des gegebenen 
Satzes halb; und gerade darauf kann nicht 
genug Gewicht gelegt werden, da nichts ge¬ 
wöhnlicher ist, als daß der Schüler gleich 
ins Allgemeine des Hauptbegrifss sich verliert. 
Ein beliebter Stoff für Schulaufsätze ist z. B. 
„Selbstüberwindung"; aber in dieser Allge- 
meinhelt verschwindet er leicht zu allgemeinen 
Moratsätzen. Heißt dagegen der Aufsatz: 
„Sich selbst bekämpfen ist der schwerste Krieg, 
sich selbst besiegen ist der schönste Sieg", so 
inuß derselbe dergestalt bearbeitet werden, daß 
überall gerade diese Form des Thmra's 
(Kampf mld Sieg) in Anwendung tritt, und 
daß eine ganze Reihe von Sprüchen, die alle 
die Selbstüberwindung zum Hauptbegriffe 
haben, daneben ihre besondere Darstellung 
finden kaün, ohne in den allgemeinen Stoss 
der Selbstüberwindung zusammenzufließen. 
Die Form des Aufsatzes kann verschieden 
sein, selbst Brief, Dialog, Betrachtung und 
eigentliche Rede. Die natürlichste Fassung 
jedoch besteht darin, daß durch eine kurze 
Einleitung auf den Hauptsatz hingeführt, 
dieser dann näher delerininirt und descridirt, 
und alsdann, nicht sowohl bewiesen, als 
vielmehr allseitig entfaltet und in seiner 
Wahrheit und Bedeutsamkeit veranschaulicht 
und eindringlich gemacht werde. Es sind 
also die bekannten vier Haupttheile: Exor- 
dium, expositio, argumentatio ct amplifi- 
catio, epilogus. Der Anfang wird am besten 
gemacht mit der alten strengen Form der C h r i e, 
wofür Secunda die geeignete Klasse ist. 
§. 2U Die Ehrte. 
Der Name Ehrte kommt von dem Griechi¬ 
schen ‘/osin, Nutzanwendung. Ihr Wesen 
besteht nämlich darin, daß ein sinnreicher 
Spruch erläutert und so für den Leser prak¬ 
tisch gemacht wird. Gewöhnlich theilt inan 
die Ehrte ein in Ebria veYbalis, activa und 
mixta, je nachdem das Thema einen bedeut¬ 
samen Ausspruch, oder eine charakteristische 
Handlung, oder beides zugleich enthält. Am 
geläufigsten aber ist die Verbal Chrie, oder 
die Erörteiung einer gehaltvollen Sentenz. 
Als Begründer einerstrengcn rhetorischen Form 
für die Ehrte wird Aphthonius von An¬ 
tiochien (um 300 ir. Chr.) angegeben. Mit 
dem Studium des classischen Alterthums 
wurde sie eine beliebte rhetorische Uebungs¬ 
form in den Gelehrtenschulen und herrschte 
besonders im 17. Jahrhundert. Gottsched 
suchte sie zu verdächtigen, aber sie erhielt sich 
noch fortwährend, lind es ist kein Zweifel, 
daß sie die einfachste Grundlage bildet für 
jede Entwickelung und Erläuterung eines 
Gedankens. Denn so schroff und mechanisch
	        
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