Full text: Für Oberklassen (Teil 2, [Schülerband])

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21. Guter Rat. 
1. Villst du getrost durebs Leben gehn: blick über dich! 
WVillst du nicht fremd im Leben stebn: blick um dich! 
WVillst du dich selbst in deinem Werte sebn: blick in dich! 
Lavater. 
2. Streb zur Vollendung früh und spat, 
Bis dass dein Tag zur Neige gebt. 
8Siebel. 
22. Das Loch im Ärmel. 
„Ich hatte einen Spielgesellen und Jugendfreund Namens Albrecht“, 
erzählte einst Herr Marbel seinem Neffen. „Wir beide waren überall 
und nirgend, wie nun Knaben sind, wild, unbändig. Unsere Kleider waren 
nie neu, sondern schnell besudelt und zerrissen. Da gab's Schläge zu 
Hause; aber es blieb beim alten. Eines Tages saßen wir in einem 
oͤffentlichen Garten auf einer Bank und erzählten einander, was wir 
werden wollten. Ich wollte Generallieutenant, Albrecht Generalsuperin— 
tendent werden. 
„Aus euch beiden wird im Leben nichts!“ sagte ein steinalter Mann in 
feinen Kleidern und weißgepuderter Perücke, der hinter unserer Bank stand 
und die kindlichen Entwürfe angehört hatte. 
Wir erschraken. Albrecht fragte: „Warum nicht?“ 
Der Alte sagte: „Ihr seid guter Leute Kinder, ich sehe es euren Röcken 
an, aber ihr seid zu Bettlern geboren; würdet ihr sonst diese Löcher in euren 
Armeln dulden?“ Dabei faßte er jedem von uns an die Ellenbogen und 
bohrte mit den Fingern in die dafelbst durchgerissenen Ärmel hinauf. — 
Ich schämte mich, Albrecht auch. „Wenn's euch“, sagte der alte Herr, 
„zu Hause niemand zunähet, warum lernt ihr's nicht selbst? Im Anfange 
hättet ihr den Rock mit zwei Nadelstichen geheilt, jetzt ist's zu spät, und ihr 
geht wie Bettelbuben. Wollt ihr Generallieutenant und Generalsuperintendent 
werden, so fangt an beim kleinsten. Erst das Loch im Ärmel geheilt, 
ihr Bettelbuben, dann denkt an etwas andres!“ 
Wir beide schämten uns von Herzensgrund, gingen schweigend davon 
und hatten das Herz nicht, etwas Boses über den bösen Alten zu sagen. 
Ich aber drehte den Ellenbogen des Rockärmels so herum, daß das Loch 
einwärts kam, damit es niemand erblicken möchte. 
Ich lernte von meiner Mutter nähen, spielend, denn ich sagte nicht, 
warum ich's lernen wollte. Jetzt, wo sich an meinen Kleidern eine Naht 
öffnete, ein Fleckchen sich durchschabte, ward's sogleich gebessert. Das machte 
mich aufmerksam; ich mochte an unzerrissenen Kleidern nun nicht mehr Un— 
reinlichkeit leiden. Ich ging sauberer, ward sorgfältiger, freute mich und 
dachte, der alte Herr in der schneeweißen Perücke hätte so unrecht nicht. 
Mit zwei Nadelstichen zu rechter Zeit rettet man einen Rock; mit einer 
Hand voll Kalk ein Haus; mit einem Glase Wasser löscht man eine 
angehende Feuersbrunst; aus roten Pfennigen werden Thaler; aus kleinen 
Samenkörnern Bäume, wer weiß wie großl 
Albrecht nahm die Sache nicht so streng. Es war sein Schade. Wir 
waren beide einem Krämer empfohlen; er verlangte einen im Schreiben
	        
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