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davongelaufen, habe ein schlechtes Leben geführt, habe gestohlen und
die Leute betrogen; ich müßte ein paar Stunden haben, wenn ich alle
die bösen Streiche erzählen wollte, die ich mein Leben lang begangen
habe. Gern will ich meine Strafe leiden; denn ich weiß, daß ich sie
verdient habe.“
Da lächelte der Prinz und sagte: „Wie kommt denn so ein ab—
scheulicher Mensch unter diese ehrlichen Leute? Geschwind nehmt ihm
die Ketten ab und jagt ihn fort, daß er nicht etwa diese ehrlichen Leute
auch anstecke!“
Sogleich wurden ihm die Ketten abgenommen und er in Freiheit
gesetzt.
71. Das Glöcklein des Glücks.
Joh. Gabr. Seidl
1. Der König lag am Tode, da rief er seinen Sohn;
er nahm ihn bei den Händen und wies ihn auf den Thron.
„Mein Sohn,“ so sprach er zitternd, ,mein Sohn, den lass' ich dir;
doch nimm mit meiner Krone noch dies mein Wort von mir:
2. Du denkst dir wohl die Erde noch als ein Haus der Lust!
Mein Sohn, dem ist nicht also, sei dessen früh bewußt!
Nach Eimern zählt das Unglück, nach Tropfen zählt das Glück;
ich geb' in tausend Eimern zwei Tropfen kaum zurück!“
3. Der König spricht's und scheidet, der Sohn begriff ihn nicht;
er sieht noch rosenfarben die Welt im Maienlicht.
Zu Throne sitzt er lächelnd, beweisen will er's klar,
wie sehr getäuscht sein Vater von düsterm Geiste war.
1. Und auf das Dach des Hauses, grad über seinem Saal,
worin er schläft und sinnet und sitzt am frohen Mahl,
läßt er ein Glöcklein hängen von hellem Silberklang,
das läutet, wie er unten nur leise rührt den Strang.
5. Den aber will er rühren — so thut er's kund im Land —
so oft er sich recht glücklich in seinem Sinn empfand;
und traun — zu wissen glaubt er's — da wird kein Tag entfliehn,
an dem er nicht mit Rechten das Glöcklein dürfte ziehn.
z. Und Tag' um Tage heben ihr rosig Haupt empor;
doch abends, wenn sie's senken, trägt's einen Trauerflor.
Oft langt er nach dem Seile, das Auge klar und licht;
da zuckt ihm was durchs Inn're, das Seil berührt er nicht.