Full text: Zweites Lesebuch für die Oberstufe (Teil 6, [Schülerband])

L. In der Werkstatt. 
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arbeitet, um die Maschine zu montieren. Sonntag früh 4 Uhr 
wurde sie geheizt und sodann zur Probe bis Großbbeeren und 
zurũck gefahren. Borsig hatte die ganze Nacht bei seinen Arbeitern 
gestanden; voller Erwartung sah er auf sein Werk, noch nicht 
gewib, ob es ihm gelingen würde. Aber Freudigkeit und Sieges- 
hewubtsein ergriff ihn, als die Maschine sich mit rubiger Sicher 
heit bewegte, und voller Ereude rief er seinem Ingenieur zu 
Sehen Sie, sie gehtl — Der Sieg war errungen! Die deutsche 
Industrie hatte durch Borsig Selbstandigkeit erlangt; das Vorrecht 
Englands und Amerikas in Bezug auf Maschinenwesen hatte in 
Borsig einen siegreichen Wettkampfer gefunden. Der grobe Bedarf 
von Schmiedeeisen, welches in der notwendigen Güte nur von Eng 
land bezogen werden konnte, bestimmte Borsig, eigne Eisen- Walz- 
und Hammerwerke in dem nahen Moabit anzulegen, sowie weit 
ausgebreitete Eisen- und Kohlengruben in Schlesien zu erwerben. 
Am 25. Mãarz 1854 konnte der erste Lokomotivenbauer Berlins 
mit Genugthuung und Stolz die Fertigstellung der 500. Lokomotive 
feiern; es gestaltete sich dieses Ereignis zu einem wahren 
Volksseste und zu einer öffentlichen Huldigung für den genialen 
„Lokomotivenkönig“. 
Leider war es Borsig nicht vergönnt, sich seines redlich er- 
worbenen Reichtums lange zu erfreuen. Am 6. Juli 1854 be— 
reitete ein Schlagfluß plõtzlich dem Leben des erst fünfeigjahrigen 
Mannes ein Ende. Berlin, vom Könige bis zum Arbeiter, trauerte 
um ihn. In kaum anderthalb Dutzend Jahren hatte Borsig in Berlin, 
Moabit und in Schlesien die Anstalten geschaffen, die in seinem 
Todesjahre fast dritthalb tausend Arbeitern Beschaftigung und Brot 
gaben, und deren Arbeiten im letzten Jahre einen Wert von fast 
neun Millionen Mark umfaßten. 
Albert Borsig war fünfundzwanzig Jahre alt, als er 1854 
nach dem unerwarteten Tode des Vaters als einziges Kind die 
Erbschaft aller weit verzweigten industriellen Anlagen desselben 
antrat. Seine Erziehung und Bildung entsprach den reichen Ver- 
mõgensverhãltnissen, der tũchtigen Einsicht und dem arbeitsamen 
Burgersinn des vortrefflichen Vaters; die Mutter, eine EFrau von 
bescheidenster Einfachheit, Anspruchslosigkeit und Herzensgüte, 
hatte den einzigen Liebling ihres Herzens nicht verwöhnt und ver- 
zartelt. Er hat die Hinterlassenschaft des Vaters gewissenhaft ver- 
waltet. Alles blieb, wie es bisher gewesen war; alles ging in dem 
bisherigen Geleise unverändert und stetig vorwãrts. Und des alten 
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