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welehe braucht!“ — Der Mund brummte: „Ieh mülste wohl ein grosser Narr
sein, wenn ich immer für den Magen Speise kauen wollte, damit er nach
seiner Bequemlichkeit verdauen möge: schaffe sich selbst einen Mund, wer
einen nötig hat!“ — Die Augen fanden es gleichfalls sehr sonderbar, dals
sie allein für den ganzen Leib bestäandig Wache halten und für ihn sehen
sollten. Und so sprachen auch alle übrigen Glüeder des Leibes, und eins
kündigte dem andern den Dienst auf. Was geschah? — Da die Pulse nicht
mehr gehen, die Hände nicht mehr arbeiten, der Mund niceht mehr essen,
die Augen nicht mehr sehen vwollten, so fing der ganze Körper in allen
seinen Gliedern an zu welken und nach und nach abzusterben. Da sahben
sie ein, dass sie thöricht gehandelt hatten, und vurden einig, dass es kuünftig
nicht wvieder geschehen sollte. Da diente wieder ein Glüed dem andern,
und alle vurden wieder gesund und stark, wie sie vorher gewesen varen.
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192. Sprüche.
(Ruckert.)
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Wenn die WVasserlein kamen zuhauf,
gäb es wohbl einen Fluls;
weil jedes nimmt seinen eigenen Lauf,
eins ohne das andre vertrocknen muls.
Das sind die Weisen,
die durch Irrtum zur Wahrheit reisen.
Die bei dem Irrtum verharren,
das sind die Narren.
Der Vater lehrte seinen Sohn,
keinem König gebühre ein Lhron.
Der Sobn nahm Lehr' an in der Schule
und warf den Vater von seinem Stuhble.
Willst du, dals wir mit hinein
in das Haus dich bauen,
lals es dir gefallen, Stein,
dals wir dich behauen.
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193. Das blinde Rols.
(O. Schulz.)
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Aueh gegen Tiere soll der Mensch nicht undanscbar sein, vie jener
Kaufmann in der alten Stadt Wineta, den sein Schimmel wegen Undanks
verklagte.
Der Schimmel hbatte dem Herrn sechon viele Jahre treu gedient und
ihm einmal sogar dureh seine Schnelligkeit das Leben gerettet, als er in 30
einem Walde von Räubern überfallen vurde. Der Kaufmann that deshalb
ein Gelubde, er wolle den Schimmel niemals verstossen und ihn aufs beste
verpflegen, so lange er leben werde. Weil aber der Schimmel auf der
Flucht vor den Raubern sich sehr erhitzt hatte, so vard er bald darauf
erst steif und lahm und endlich aueh blind, und der Kaufmann vergals
seiner Dienste, so wie seines eigenen Gelubdes. Prst liess er das Pferd
bei kärglichem Futter darben, und weil ihm eine Metze Hafer täglieh zu
viel schien für ein Pferd, das ihm zu niehts mehr nütze, so befahl er
seinem Knechte, den Schimmel wegzujagen. Der nahm einen Stock, veil
das Pferd nieht weichen wollte, und trieb es aus dem Stalle. Da blieb
es sieben Stunden am Thore stehen mit niedergebeugtem Kopf und spitzte
seine Ohren, venn etwas im Hause sich regte. Die Nacht schlief es
daselbst auf den harten Steinen, vahrend es kalt war und sehneite. Endlieh
trieb der Hunger das Tier wegzugehen; aber weil es blind war, stiess es
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