Full text: [Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband])

48. Das Ramel. 
1. Der Morgen dämmert über die Wüste. Die Karawane schreitet 
im langen Zuge die kahle, endlose Ebene hin und fördert ihre Schritte 
nach dem einförmigen Tone der Pfeife. Die Kamele sind mit Ballen 
beladen, mit Tüchern bedeckt, auf ihnen die Mauren mit bunten Tur— 
banen und Mänteln, mit Dolch und Säbel, ihren unzertrennlichen Ge— 
fährten. Den Kamelen zur Seite gehen die Sklaven. Voran reitet 
ein brauner, hagerer Araber, der Herr des Zugs. Das ganze bunte 
Gewimmel ist in eine Wolke von Staub gehüllt. Die Sonne steigt 
empor. Die Karawane kehrt sich ihr entgegen und begrüßt das leuch⸗ 
tende Gestirn des Tages. Und höher hebt sich die Sonne; ihre Glut 
strahlt herab und wieder von der Erde auf. Die wunden Sohlen 
schmerzen, die Glieder ermatten, brennender Durst peinigt jeden. Kein 
Strom zieht die Silberwelle durch ein frisches Grün; weithin ist kein 
Gesträuch zu erspähen. Auf heißem, schattenlosem Boden schreitet die 
Karawane. Käme im Sturme eine schwarze Wolke, rissen Blitze die 
Schleusen des Himmels auf, es würde Rettung den Schmachtenden 
bringen. Das Gebrüll des Löwen wäre ihnen erwünscht; würde es 
doch ersehntes Land verheißen. 
2. Da liegt mitten in der stillen Wüste ein Quell, ein lebendig Be— 
grabener, der seine leise Stimme vernehmen läßt. Das Kamel hat ihn 
aus der Ferne schon erspürt, und plötzlich gewinnt es seine Kräfte wieder, 
schreitet rasch voran, ihm lustig nach der ganze Zug. Da steht es still 
und bäumt sich vor Freude. Aus jedem Auge bricht ein Strahl neuen 
Lebens; die matten Glieder durchzuckt elektrisches Feuer. Es stellt sich 
die Karawane im Kreise. Eifrig wird der Boden aufgescharrt, und aus 
des Grabes Tiefe tritt der Quell glänzend an den Tag, und alles stürzt 
hin, sich zu exrlaben am unverwüstlichen Lebensborne. Die erstarrten 
Züge werden milder, die Augen heiterer; der Mut ist gestählt, die 
Kräfte wachsen. Man lagert sich; die Zelte werden aufgeschlagen, die 
Tiere gefüttert und mit Sorgfalt vom Staube gereinigt. Da sind alle 
Drangsale vergessen. Gespräche erheitern die Nacht; Mürchen werden 
erzählt; die leere Wüste ist zu einem Paradiese geworden. Und ist das 
Fest vorüber, sind die Schläuche gefüllt, die Kamele getränkt, so werden 
die Zelte abgebrochen, die Ladungen aufgeschnallt. Lustig ertönt die 
Pfeife, und die Reise geht ihrem Ziele zu. Wochen weichen vorüber; 
eine Ode verliert sich wieder in der andern in stäter Einförmigkeit. 
Heiße Tage wechseln mit kalten Nächten ab. Am Tage geht der Müde 
16
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.