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Hause; zu einem zweiten, auch der ist abwesend. Er klopft an alle Thüren,
wo Bader wohnen, endlich an alle Barbierstuben: niemand hört ihn an,
niemand will ihm helfen; die Kaiserwahl und die Augenlust liegt heute
allen näher am Herzen, als ein Menschenleben.
Indem er nach dem Arzte sucht, stößt ihn die wogende Menge dahin
und dorthin. Er hört die Glocken von allen Türmen lüuten, sie klingen
ihm wie Grabgeläute; er sieht den Zug mit dem gewählten Kaiser aus
dem Dome nach dem Römerberge ziehen, trotz der bunten Kleider kommt
ihm der Zug wie sein eigener Leichenzug vor. Jetzt, als der Kaiser sich
auf dem Balkon des Römers dem Volke zeigt, als das Volk sich um die
ausgeworfenen Krönungsmünzen, um den gebratenen Ochsen und um den
Haferberg tummelt und schlägt, da erfaßt seine Hand endlich den ersehnten
Arzt, und er bittet und beschwört ihn, ihm zu helfen. Aber der Arzt
vergißt seiner Pflicht; er tröstet ihn damit, der Hund sei wahrscheinlich
gar nicht toll gewesen, und er wolle ihm morgen in der Frühe die Wunde
verbinden; heute könne kein Christenmensch ihm zumuten, daß er seinen
guten Platz verlasse. Denn es sei noch mehr zu sehen, und eine Kaiser—
krönung erlebe man nicht alle Tage.
Da wandte sich der alte Holzmann schweigend aus dem Getümmel;
er sah wohl, daß die Selbstsucht heute alle in Priester und Leviten ver—
wandelt habe, die den Geschlagenen am Wege liegen lassen. Da bei Men—⸗
schen keine Hülfe zu finden war, so befahl er sich dem Arzte im Himmel,
der da giebt einfältiglich jedermann und rücket es niemand auf. Und das
Gebet zu dem Helfer in aller Not und die Stille des Aprilabends nach
dem Getümmel des Krönungstages that ihm so wohl, daß er getröstet heim—
kam und Kraft behielt, auch die Seinen zu trösten. Aber nicht mit Lebens—
hoffnungen, sondern mit jenen, die der Herr den Seinen gab: „Es ist
euch gut, daß ich von euch gehe.“ So ließ er wohl am andern Tage
das verwundete Bein von dem Arzte verbinden, so befolgte er genau dessen
Vorschriften; aber in seinem Herzen war es zur Gewißheit geworden:
„Beschicke dein Haus, denn du wirst sterben und nicht leben bleiben.“
Und so that der alte Holzmann. Noch ein Sonntag, das fühlte er,
war ihm in diesem Leben beschieden; den wollte er noch mit seiner Ge—
meinde begehen. Obgleich von großen Schmerzen gequält, betrat er noch
einmal die Kanzel. Von seiner Gemeinde fehlten heute nur die Kranken
und Unmündigen, alt und jung hing an seinen Lippen; sie fühlten alle,
daß ihr Hirt von ihnen Abschied nehmen wolle. Und er nahm Abschied
Sein Text war der Abschied Pauli von den Ältesten von Ephesus. Und
als er kam zu der Stelle: „Und nun, liebe Brüder, ich befehle euch Gott
und dem Worte seiner Gnade, der da mächtig ist, euch zu erbauen, und
euch zu geben das Erbe unter allen, die geheiligt werden,“ — da konnte
er nicht weiter reden; denn es war, wie zu Milet, viel Weinens unter
ihnen allen.
Noch ein schweres Stündlein gab es, als der verhängnisvolle neunte
Tag kam und der Pfarrer auch von den Seinen scheiden mußte. Das
that er noch mit frischer Kraft und fröhlicher Hoffnung. Dann ging er,
stark wie ein Held und geduldig wie ein Lamm, in sein Studierstübchen,
hieß es von außen verriegeln und verwahren und wartete auf ein schweres