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aber niemand. Nun steckte er es in die Tasche und wollte den andern
Schuh auch anziehen; aber wie groß war seine Überraschung, da er
nun noch ein Geldstück fand. Das Gefühl überwältigte ihn, er fiel auf
die Knie, blickte gen Himmel und rief aus: „O Herr, mein Gott, so
ist es doch wahr, daß du diejenigen nicht verlässest, die auf dich trauen!
Du wußtest, daß meine Kinder kein Brot haben und daß mein Weib
krank danieder liegt, und daß ich rat- und hilflos war. Da hast du
mir, du lieber himmlischer Vater, durch ein zum Wohltun geneigtes
Herz dieses Geld zugesandt, damit mir geholfen würde! Ach, daß
meine Seele deine Güte erkennete, und daß ich dir meine Dankbarkeit
bis in den Tod bezeigen könnte! Das Werkzeug deiner barmherzigen
Hilfe aber segne reichlich, du Vergelter alles Guten, mit deinem
besten Segen!“
Der Jüngling stand da in tiefer Rührung, und Tränen benetzten
seine Augen. „Nun,“ sagte Durand, „sind Sie jetzt nicht vergnügter,
als Sie es gewesen wären, wenn Sie Ihren Streich ausgeführt hätten!“
— „Ach, mein teurer, lieber Herr Professor!“ erwiderte der Jüngling,
„Sie haben mir hier eine Lehre gegeben, die ich nimmermehr vergessen
will; ich fühle jetzt die Wahrheit des schönen, aber bisher nie ver—
standenen Wortes: Geben ist seliger denn Nehmen. Nie sollten wir
uns dem Armen nahen als mit dem Wunsche, ihm Gutes zu tun.“
Hebel.
109. Bparsamkeit ist nicht Geiz.
Zwei Einwohner eines abgebrannten Dorfes gingen von Ort zu
Ort, um milde Gaben für dieses einzusammeln. Da kamen sie zu
einem großen Bauernhofe, wo der Bauer eben vor der Tür stand.
Er verwies es einem Knechte ernsthaft, daß er die Stricke, woran die
Ochsen gespannt wurden, über Nacht im Regen gelassen habe und die
Sachen nicht besser verwahre. Da sie dies von weitem hörten, sagte
einer zum andern: „O weh, dieser Mann ist geizig; da wird's nicht
viel geben!“
Als sie näher kamen, wurden sie von dem Bauer ganz freundlich
empfangen und ins Haus geführt. Sie erzählten ihm nun ihr Unglück.
Der Bauer ließ ihnen zu essen geben, schenkte ihnen ein schönes Stück
Geld und versprach, noch zwei Malter Saatkorn in das verunglückte
Dorf zu schicken.
Die Männer wunderten sich sehr über seine Wohltätigkeit. Sie
gestanden während des Essens freimütig, daß sie ihn anfangs für geizig
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Deutsches Lesebuch, Oberstufe. J. Auflage.