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Scheue niemand so viel als dich selbst. Inwendig in uns wohnet
der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr gelegen
ist als an dem Beifall der ganzen Welt und der Weisheit der Griechen
und Ägypter. Nimm es dir vor, Sohn, nicht wider seine Stimme zu
tun, und was du sinnst und vorhast, schlage zuvor an deine Stirn und
frage ihn um Rat. Er spricht anfangs nur leise und stammelt wie ein
unschuldiges Kind; doch wenn du seine Unschuld ehrst, löst er gemach
seine Zunge und wird dir vernehmlicher sprechen.
Lerne gern von andern, und wo von Weisheit, Menschenglück,
Licht, Freiheit, Tugend usw. geredet wird, da höre fleißig zu. Doch
traue nicht flugs und allerdings; denn die Wolken haben nicht alle
Wasser, und es gibt mancherlei Weise. Sie meinen auch, daß sie die
Sache hätten, wenn sie davon reden können und davon reden. Das ist
aber nicht, mein Sohn. Man hat darum die Sache nicht, daß man davon
reden kann und davon redet. Worte sind nur Worte, und wo sie so
gar leicht und behende dahinfahren, da sei auf deiner Hut, denn die
Pferde, die den Wagen mit Gütern hinter sich haben, gehen lang—
sameren Schrittes.
Erwarte nichts vom Treiben und den Treibern, und wo Geräusch
auf der Gassen ist, da geh fürbaß.
Wenn dich jemand will Weisheit lehren, so siehe in sein Angesicht.
Dünket er sich noch, und sei er noch so gelehrt und so berühmt, laß
ihn und geh seiner Kundschaft müßig. Was einer nicht hat, das kann
er auch nicht geben. Und der ist nicht frei, der da will tun können,
was er will; sondern der ist frei, der da wollen kann, was er tun soll.
Und der ist nicht weise, der sich dünket, daß er wisse; sondern der ist
weise, der seiner Unwissenheit inne geworden und durch die Sache
des Dünkels genesen ist.
Wenn es dir um Weisheit zu tun ist, so suche sie und nicht das
Deine, und brich deinen Willen und erwarte geduldig die Folgen.
Denke oft an heilige Dinge und sei gewiß, daß es nicht ohne Vor—
teil für dich abgehe und der Sauerteig den ganzen Teig durchsäuere.
Verachte keine Religion, denn sie ist dem Geist gemeint, und du
weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern verborgen sein könne.
Es ist leicht zu verachten, Sohn; und verstehen ist viel besser.
Lehre nicht andere, bis du selbst gelehrt bist.
Nimm dich der Wahrheit an, wenn du kannst, und laß dich gern
ihretwegen hassen; doch wisse, daß deine Sache nicht die Sache der
Wahrheit ist, und hüte, daß sie nicht ineinander fließen, sonst hast du
deinen Lohn dahin.