Full text: Deutsches Lesebuch für die obere Stufe mehrklassiger Schulen (Abtheilung 2, [Schülerband])

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25. Die russischen Ostseeprovinzen. 
tröpfelt hier oft Tage, ja Wochen lang, ohne daß es zu einer kräftigen 
Entladung und Aufheiterung kommt. Selbst der Schnee fliegt häufig 
mit Regen vermischt herab. Wie die Ostseeprovinzen zwischen dem 
Slaven-⸗ und Germanenthum liegen, so liegen sie auch zwischen den 
deutschen und den russischen Wetterformen. Die Jahreszeiten scheiden 
sich nicht so schroff wie in Rußland; die Uebergänge sind aber auch 
nicht so mild wie in Deutschland. Der kalte sibirische Wind kann hier 
nicht mehr so entschieden herrschen, wo die Ostsee und westliche Ein— 
flüsse noch im Sommer kühlen und im Winter wärmen. Daher findet 
man hier ein beständiges Schwanken zwischen Thauen und Frieren, 
zwischen Schnee und Regen. In den dunklen Herbstmonaten scheint es 
förmlich, als habe die Sonne die Erde verlassen. Undurchdringliche 
Wolken decken einförmig den Himmel; Wege und Stege versinken in 
Sumpf, und fast aller gesellige Verkehr geräth in Stillstand. Die 
schönsten klimatischen Erscheinungen sind dagegen die hellen Sommer— 
nächte und die winterlichen Nordlichter. 
Livland und Kurland haben noch Fichten- und Kiefernwälder, 
wie sie in den meisten andern Ländern Europas gar nicht mehr zu 
finden sind. Hier und da giebt es sogar noch Urwälder, die so dicht 
und wild sind, daß sie noch kein menschlicher Fuß betrat. Manche 
Gutsbesitzer haben so viele grünende Masten in ihren Wäldern stecken, 
daß sie die ganze englische Flotte damit versehen könnten. Trotz der 
großen Waldungen, der Sümpfe, Seen, Moorgründe und völlig öden 
Sandstriche ist doch das Land im ganzen nicht unfruchtbar. Vielmehr 
scheint es namentlich dem Roggen, der Gerste, dem Flachse vorzugs— 
weise zuzusagen, die nirgends in der Welt fröhlicher und vollkommener 
gedeihen als hier. Die Fruchtbarkeit nimmt jedoch von Süden nach 
Norden zu ab. In dem südlichen Littauen, dem Weizenlande, findet 
sich die größte Fruchtbarkeit. Die Kurländer sehen schon neidisch auf 
die Littauer, werden aber ihrerseits wieder von den nördlichen Liv— 
ländern ihres üppigen Bodens wegen beneidet. Die Esthländer sind 
im ganzen genommen dürftiger als alle ausgestattet. Seit langen Jahr— 
hunderten gehen die Getreidefrüchte dieser Ostseeprovinzen in alle Welt. 
Schweden, Holland, England und andere Länder wurden mit 
dem Brote dieser merkwürdigen Kornkammern seit undenklichen Zeiten 
gefüttert. Die liv- und kurländischen Saaten werden auf allen Märkten 
als vorzüglich gelobt, und wegen mancher trefflichen Eigenschaften stehen 
sie in London, Amsterdam und Kopenhagen in höherem Preise 
als das Korn aller andern Länder. Sie wanderten von hier seit langen 
Zeiten auf allbekannten Wegen zu den Seestädten am Meeresstrande, 
bauten dort vieler, reicher Kaufleute Häuser, schufen die Bürgerschaften 
von Riga, Reval, Narva und anderen Städten und knüpften die 
Verbindungen des Landes mit den entferntesten Gegenden. Der Flachs— 
und Hanfbau ist in Kur- und Esthland nicht gerade bedeutend. Der 
berühmte Rigaische Flachs kommt meistens aus Livland, sowie aus den 
littauischen und weißrussischen Gauen. 
Kohl.
	        
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