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Perioden der Wissenschaft die Phantasie die volle Herrschaft hat, ordnet 
sie sich später dem Verstande unter und wird dessen hilfreiche und willige 
Dienerin. 
Die Induktion unter der Leitung der Phantasie ist intuitiv) und schöpfe— 
risch, aber unbestimmt und maßlos, die Deduktion unter der Leitung des 
Verstandes analysiert?) und begrenzt und ist bestimmt und maßvoll. 
Einer der wesentlichsten Charaktere der deduktiven Forschung in der 
Naturwissenschaft ist das Maß, und das Endziel aller ihrer Arbeiten ist auf 
einen unveränderlichen Zahlenausdruck für die Eigenschaften der Dinge, für 
die Vorgänge und Erscheinungen gerichtet. Die Phantasie vergleicht und unter— 
scheidet, aber sie mißt nicht; denn zum Messen gehört ein Maßstab, der ein 
Produkt des Verstandes ist. 
Beim Eingreifen der Wissenschaft in eine Kunst erwächst der kaum hoch 
genug anzuschlagende Nutzen, daß sie die Kunst als solche, und was individuell 
in ihr ist, zerstört; die Wissenschaft löst die Kunst in lehrbare und erlernbare 
Regeln auf, durch deren Kenntnis auch der Unbegabte in den Gewerben, der 
Industrie, Landwirtschaft und Technik das Vermögen des begabtesten, geschick— 
testen und erfahrensten Praktikers empfängt, der seine Ziele auf dem kürzesten, 
sichersten und ökonomischsten Wege erreicht. Was früher einem Individuum 
eigen war, wird von da an das Gemeingut aller. 
69. Der Kampf ums Recht. 
Rüdolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, Wien (Manzsche k. k. Hof, Verlags- und Universitäts— 
Buchhandlung), 8. Aufl., 1886. S. 13 —20 
Ich wende mich dem Kampf um das subjektive oder konkrete Recht 
zu. Er wird hervorgerufen durch die Verletzung oder Vorenthaltung desselben. 
Da kein Recht, weder das der Individuen noch das der Völker, gegen diese Gefahr 
geschützt ist, — denn dem Interesse des Berechtigten an seiner Behauptung steht 
stets das eines andern an seiner Mißachtung entgegen — so ergibt sich daraus, daß 
dieser Kampf sich in allen Sphären des Rechts wiederholt: in den Niederungen 
des Privatrechts so gut wie auf den Höhen des Staatsrechts und Völkerrechts. 
Die völkerrechtliche Behauptung des verletzten Rechts in Form des Krieges, 
— der Widerstand eines Volkes in Form des Aufstandes, der Empörung, der 
Revolution gegen Willkürakte, Verfassungsverletzungen von seiten der Staats— 
gewalt, — die turbulente') Verwirklichung des Privatrechts in Form des 
sog. Lynchgesetzes“), des Faust- und Fehderechts des Mittelalters und dessen 
letzte Überbleibsel in der heutigen Zeit: das Duell, — die Selbstverteidigung 
in Form der Notwehr, — und endlich die geregelte Art seiner Geltendmachung 
in Form des Zivilprozesses, — sie alle sind trotz aller Verschiedenheit des 
Streitobjektes und des Einsatzes, der Formen und der Dimensionen des Kampfes 
nichts als Formen und Szenen eines und desselben Kampfes ums Recht. 
Wenn ich von allen diesen Formen die nüchternste herausgreife: den legalen 
Kampf ums Privatrecht in Form des Prozesses, so geschieht es nicht darum, 
weil er mir als Juristen am nächsten liegt, sondern weil bei ihm das wahre 
Sachverhältnis am meisten der Gefahr einer Verkennung ausgesetzt ist, gleich— 
geistig anschauend. — 2) analysieren: auflösen, zergliedern. 
— 9 aus Nordamerika stammende Selbsthilfe, Art von Volksjustiz. 
— 5 stürmische
	        
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