Full text: [Oberklassen, [Schülerband]] (Oberklassen, [Schülerband])

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2. Die Leiche wurde gefunden und nach dem Dorfe 
gebracht, in dessen Gemarkungen sie lag. An der rechten 
Schläfe trug der entseelte Körper Spuren eines Schlages, 
wie von einem scharfen Steine. Kein Wanderbuch, kein 
Kennzeichen war zu finden, aus dem man die Herkunft 
des Entseelten entnehmen konnte. Auf dem Kirchhofe, 
der neben der Kirche hoch auf dem Hügel liegt, an dessen 
Fusse die Landstrafse, in Felsen gehauen, sich vorüber¬ 
zieht, sollte nun des andern Tages der tote Fremde begraben 
werden. Eine unzählige Menge Menschen folgte dem Zuge. 
Sie waren aus allen benachbarten Dörfern gekommen; je¬ 
der wollte seine Unschuld, seine Trauer und Teilnahme 
bekunden. Still, ohne laute Klage, nur mit tiefem Weh 
im Herzen, bewegte sich der Zug den Berg hinan. Der 
Geistliche hielt eine ergreifende Rede. Zuerst redete er 
den Entseelten an und sprach: 
»Auf dem Wege bist du gefallen. Wer weiss, wohin 
dein Herz sich sehnte, welches Herz dir entgegenschlug. 
Möge der, der alles kennt und alles heilt, Ruhe und Frie¬ 
den in die Seele der Deinigen senden! Unbekannt bist 
du gefallen, von unbekannter Hand. Niemand weiss, woher 
du kamst, wohin du gingst; aber er, der deinen Eingang 
und deinen Ausgang kennt, hat dich Bahnen hinaufsteigen 
lassen, die unser Auge nie misst. Zu welcher Kirche du 
gehörtest, welche Sprache du redetest, wer mag den stum¬ 
men Mund fragen? Du stehst jetzt vor ihm, der über 
allen Kirchen thront, den alle Sprachen nennen und doch 
nicht zu fassen vermögen.« — »Erhebet mit mir eure 
Hände!« fuhr der Geistliche zu den Versammelten fort 
und alle hoben die Hände empor. Dann sprach er wieder: 
»Wir heben unsere Hände empor zu dir, o Allwissender 1 
Sie sind rein von Blutschuld. Hier, im Lichte der Sonne 
bekennen wir: Wir sind rein von der Tat. Die Gerech¬ 
tigkeit aber wird nicht ausbleiben. Wo du auch weilest, 
der du deinen Bruder in Waldesnacht erschlugst, das 
Schwert schwebt unsichtbar über deinem Haupte und es 
wird fallen und dich zerschmettern. Kehr um, so lange 
es noch Zeit ist. Häufe nicht Frevel auf Frevel; denn einst, 
wenn sie ertönt, die Posaune des Gerichts....« 
Da plötzlich hörte man von der Strasse herauf das 
Posthorn erschallen. Das Lied erklang: »Denkst du daran?« 
— Alles schwieg und hielt den Atem an. Aus der Mitte 
der Versammelten stürzte ein junger Mann nieder und rief: 
»Ich bin’s!« — Nachdem man ihn aufgehoben, gestand 
er reumütig seine Tat; wie er in der Stadt das Geld des 
Herrn, bei dem er diente, verspielt habe; wie er den 
Lesebuch für die Oberklassen niederbayerischer Volksschulen.* ^ 2 
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