Full text: Lesebuch für die Oberklassen der Volksschulen

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202. Das Meer. 
Es ist ein überraschender Anblick, wenn einer zum 
erstenmal das unermeßliche Weltmeer schaut. Welche Wasser— 
masse, mit der alle Ströme der Erde sich nicht vergleichen 
lassen, ist da vor ihm ausgebreitet! Die riesige Fläche 
reicht weiter, als das Auge zu sehen vermag. Sie dehnt 
sich bis an den Horizont aus, wo der Himmel auf ihr zu 
ruhen scheint. Nirgends, wir mögen spähen, wie wir wollen, 
ist ein jenseitiges Ufer zu finden. Spiegelglatt oder nur 
leicht sich kräuselnd ist die Wasserebene ausgespannt. Kein 
Berg, kein Hügel, keine Erhöhung, keine Abwechselung unter— 
bricht die wunderbare Fläche. Da auf einmal braust der 
Sturm heran. Jetzt kommt Leben in das ruhige Gewässer. 
Immer hoͤher und höher heben sich die gepeitschten Wogen; 
unmer tiefer sinken dazwischen die Wellentäler. Haushohe 
Wasserberge sieht man aufsteigen und wieder sinken und weit 
ans Ufer heran schlagen die furchtbaren Wellen. Ein ge— 
waltiges Rauschen und Brausen begleitet die tiefgefurchten 
Bewegungen des Meeres, bis endlich die Wut des Windes 
sich gebrochen hat und nach und nach die alte Ruhe auf 
der weiten Wasserfläche zurückkehrt. 
Wir besteigen ein Schiff, das uns in diese gewaltige 
Wasserwelt hinaustragen soll. Wir verlassen den festen 
Boden der Erde um uns jenem unsicheren und beweglichen 
Elemente anzuvertrauen. Wir möchten sehen, wo denn das 
Meer seine Grenzen, sein jenseitiges Ufer hat. Die Segel 
sind gespannt und die Anker werden gelichtet. Immer schneller 
wird der Lauf des Schiffes; immer weiter entfernt es uns 
von dem festen, schützenden Lande. Kaum vermag das Auge 
noch die Häuser ünd Türme der Stadt zu erkennen aus 
deren Hafen uns das Schiff hinausgetragen hat. Immer 
niedriger erscheinen uns die Höhen, die das Ufer begrenzen; 
immer flacher erscheint uns das ganze Ufer, bald sehen wir 
nur noch einen duͤnklen Streifen am fernen Horizonte. Wir 
wissen kaum mehr zu unterscheiden, ob die fernen, dunkel— 
grauen, kaum mehr erkennbaren Massen noch Berge des 
Fesllandes oder entfernte Wolken sind, die am Himmel auf— 
leigen oder hinabsinken wollen. Nur mit der größten Au— 
flrengung des Auges glauben wir noch wie durch Nebel hin 
einen dunnen Streifen Landes unterscheiden zu können. End— 
lich ist alles hinter uns verschwunden. Wie erst vor uns ein
	        
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