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ihn zu empfinden, ohne im geringsten zu fürchten, daß, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen
folge, sie auch unser warte." Und sein ganzes Unglück, seine Strafe bestehe darin, daß er wie manch
guter König „mit dem Degen in der Faust auf dem Bette der Ehre" sterbe. Er errege daher nicht
Mitleid und Furcht, sondern nur Unwillen. Deshalb müsse man das Stück als Tragödie verwerfen;
denn sein Held sei kein tragischer Charakter, möge es auch sonst manche Schönheiten aufweisen und
unsere Seelenkräfte beschäftigen. Dazu bedürfe es aber nicht der „sauren Arbeit der dramatischen
Form", dafür genüge schon „eine gute Erzählung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen."
. . Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen
läßt; wenigstens können in keiner andern Form diese Leidenschaften auf einen so hohen Grad
erreget werden, und gleichwohl will man lieber alle andere darin erregen als diese; gleich¬
wohl will man sie lieber zu allem andern brauchen als zu dem, wozu sie so vorzüglich
geschickt ist.
Das Publikum nimmt vorlieb. — Das ist gut und auch nicht gut. Denn man sehnt
sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß.
Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und römische Volk auf die Schauspiele waren,
besonders jenes auf das tragische. Wie gleichgültig, wie kalt ist dagegen unser Volk für
das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher kömmt, daß die Griechen
vor ihrer Bühne sich mit so starken, so außerordentlichen Empfindungen begeistert fühlten, daß
sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu haben; dahingegen
wir uns vor unserer Bühne so schwacher Eindrücke bewußt sind, daß wir es selten der Zeit
und des Geldes wert halten, sie uns zu verschaffen? Wir gehen fast alle, fast immer, aus
Neugierde, aus Mode, aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und
begafft zu werden ins Theater und nur wenige und diese wenige nur sparsam aus anderer
Absicht.
Ich sage wir, unser Volk, unsere Bühne; ich meine aber nicht bloß uns Deutsche.
Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, daß wir noch kein Theater haben. Was viele
von unsern Kunstrichtern, die in dieses Bekenntnis mit einstimmen und große Verehrer des
französischen Theaters sind, dabei denken, das kann ich so eigentlich nicht wissen. Aber ich
weiß wohl, was ich dabei denke. Ich denke nämlich dabei, daß nicht allein wir Deutsche,
sondern daß auch die, welche sich seit hundert Jahren ein Theater zu haben rühmen, ja das
beste Theater von ganz Europa zu haben prahlen, — daß auch die Franzosen noch kein
Theater haben.
Kein tragisches gewiß nicht! Denn auch die Eindrücke, welche die französische Tragödie
macht, sind so flach, so kalt! ..
Das komme daher, weil die Franzosen sich in ihrer Eitelleit einbilden, diese Dichtungsgattung
schon lange besessen zu haben.
Einundachtzigstes Stück.
Den 9. Februar 1768.
.. Kaum riß Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarei, so glaubten sie es der
Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben,
und hierauf war gar nicht mehr die Frage (die es zwar auch nie gewesen), ob der tragische
Dichter nicht noch pathetischer, noch rührender -sein könne als Corneille und Racine, sondern
dieses ward für unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter
mußte sich darauf beschränken, dem einen oder dem andern so ähnlich zu werden als möglich. ..
Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet und auf ihre
tragischen Dichter den verderblichsten Einfluß gehabt hat. Denn Racine hat nur durch seine
Muster verführt, Corneille aber durch seine Muster und Lehren zugleich. ..