Full text: Von Vulfila bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Hälfte 1, [Schülerband])

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ihn zu empfinden, ohne im geringsten zu fürchten, daß, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen 
folge, sie auch unser warte." Und sein ganzes Unglück, seine Strafe bestehe darin, daß er wie manch 
guter König „mit dem Degen in der Faust auf dem Bette der Ehre" sterbe. Er errege daher nicht 
Mitleid und Furcht, sondern nur Unwillen. Deshalb müsse man das Stück als Tragödie verwerfen; 
denn sein Held sei kein tragischer Charakter, möge es auch sonst manche Schönheiten aufweisen und 
unsere Seelenkräfte beschäftigen. Dazu bedürfe es aber nicht der „sauren Arbeit der dramatischen 
Form", dafür genüge schon „eine gute Erzählung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen." 
. . Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen 
läßt; wenigstens können in keiner andern Form diese Leidenschaften auf einen so hohen Grad 
erreget werden, und gleichwohl will man lieber alle andere darin erregen als diese; gleich¬ 
wohl will man sie lieber zu allem andern brauchen als zu dem, wozu sie so vorzüglich 
geschickt ist. 
Das Publikum nimmt vorlieb. — Das ist gut und auch nicht gut. Denn man sehnt 
sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß. 
Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und römische Volk auf die Schauspiele waren, 
besonders jenes auf das tragische. Wie gleichgültig, wie kalt ist dagegen unser Volk für 
das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher kömmt, daß die Griechen 
vor ihrer Bühne sich mit so starken, so außerordentlichen Empfindungen begeistert fühlten, daß 
sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu haben; dahingegen 
wir uns vor unserer Bühne so schwacher Eindrücke bewußt sind, daß wir es selten der Zeit 
und des Geldes wert halten, sie uns zu verschaffen? Wir gehen fast alle, fast immer, aus 
Neugierde, aus Mode, aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und 
begafft zu werden ins Theater und nur wenige und diese wenige nur sparsam aus anderer 
Absicht. 
Ich sage wir, unser Volk, unsere Bühne; ich meine aber nicht bloß uns Deutsche. 
Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, daß wir noch kein Theater haben. Was viele 
von unsern Kunstrichtern, die in dieses Bekenntnis mit einstimmen und große Verehrer des 
französischen Theaters sind, dabei denken, das kann ich so eigentlich nicht wissen. Aber ich 
weiß wohl, was ich dabei denke. Ich denke nämlich dabei, daß nicht allein wir Deutsche, 
sondern daß auch die, welche sich seit hundert Jahren ein Theater zu haben rühmen, ja das 
beste Theater von ganz Europa zu haben prahlen, — daß auch die Franzosen noch kein 
Theater haben. 
Kein tragisches gewiß nicht! Denn auch die Eindrücke, welche die französische Tragödie 
macht, sind so flach, so kalt! .. 
Das komme daher, weil die Franzosen sich in ihrer Eitelleit einbilden, diese Dichtungsgattung 
schon lange besessen zu haben. 
Einundachtzigstes Stück. 
Den 9. Februar 1768. 
.. Kaum riß Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarei, so glaubten sie es der 
Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben, 
und hierauf war gar nicht mehr die Frage (die es zwar auch nie gewesen), ob der tragische 
Dichter nicht noch pathetischer, noch rührender -sein könne als Corneille und Racine, sondern 
dieses ward für unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter 
mußte sich darauf beschränken, dem einen oder dem andern so ähnlich zu werden als möglich. .. 
Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet und auf ihre 
tragischen Dichter den verderblichsten Einfluß gehabt hat. Denn Racine hat nur durch seine 
Muster verführt, Corneille aber durch seine Muster und Lehren zugleich. ..
	        
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