Full text: [Teil 2 = Für obere Klassen] (Teil 2 = Für obere Klassen)

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92. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe. 
92. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe. 
1. Äuf der Burg zu Germersheim, 
stark am Geist, am Leibe schwach, 
sitzt der greise Kaiser Rudolf, 
spielend das gewohnte Schach. 
2. Und er spricht: „Ihr.guten Meister, 
Ärzte, sagt mir ohne Zagen, 
wann aus dem gebrochnen Leib 
wird der Geist zu Gott getragen?" 
8. Und die Meister sprechen: „Herr! 
wohl noch heut erscheint die Stunde." 
Freundlich lächelnd spricht der Greis: 
„Meister, Dank für diese Kunde!" 
4. „ Aus, nach Speier! aus, nach Speier!" 
ruft er, als das Spiel geendet; 
„wo so mancher deutsche Held 
liegt begraben, sei's vollendet! 
5. Blast die Hörner! bringt das Roß, 
das mich oft zur Schlacht getragen!" 
Zaudernd stehn die Diener all, 
doch er ruft: „Folgt ohne Zagen!" 
6. Und das Schlachtroß wird gebracht. 
„ Nichtzum Kampf, zumew'gen Frieden", 
spricht er, „trage, treuer Freund, 
jetzt den Herrn, den lebensmüden." 
7. Weinend steht der Diener Schar, 
als der Greis auf hohem Rosse, 
rechts und links ein Kapellan, 
zieht, halb Leich', aus seinem Schlosse. 
8. Trauernd neigt des Schlosses Lind' 
vor ihm ihre Äste nieder: 
Vögel, die in ihrer Hut, 
singen wehmutsvolle Lieder. 
9. Mancher eilt des Wegs daher, 
der gehört die bange Sage, 
sieht des Helden sterbend Bild 
und bricht aus in laute Klage. 
10. Aber nur von Himmelslust 
spricht der Greis mit jenen zweien; 
lächelnd blickt sein Angesicht, 
als ritt' er zur Lust in Maien. 
11. Von dem hohen Dom zu Speier 
hört man dunrpfe Glocken schallen; 
Ritter, Bürger, zarte Frauen 
weinend ihm entgegenwallen. 
12. In den hohen Kaiscrsaal 
ist er rasch noch eingetreten; 
sitzend dort auf goldnem Stuhl, 
hört man für das Volk ihn beten. 
13. „Reichet mir den heil'gen Leib!" 
spricht er dann mit bleichem Munde; 
drauf verjüngt sich fern Gesicht 
um die mitternächt'ge Stunde. 
14. Da aus einmal wird der Saal 
hell von überird'schem Lichte, 
und entschlununert sitzt der Held, 
Himmelsruh' im Angesichte. 
15. Glocken dürfen's nicht verkünden, 
Boten nicht zur Leiche bieten, 
alle Herzen längs des Rheins . 
fühlen, daß der Held verschieden. 
16. Nach dem Dome strömt das Volk, 
schwarz, unzähligen Gewimmels; 
der empfing des Helden Leib, 
seinen Geist der Dom des Himmels. 
I. Kerner. 
93. Die deutschen Städte im Mittelaller. 
'TVe Bewohner der Städte bestanden ursprünglich aus freien Bauern, welche 
Heinrich I. dahin berufen und mit mancherlei Vorrechten ausgestattet hatte. 
Ihre Nachkommen bildeten die sogenannten Geschlechter, welche sich als Höher¬ 
stehende von den Nachkommen der unfreien Leute und von denen, welche später 
eingewandert waren, absonderten. Sie machten Anspruch auf die alleinige Ver- ! 
waltung der städtischen Angelegenheiten, aus ihrer Mitte wurden die Schöppen 
oder Ratsherren und die Schultheißen erwählt, sie hatten fast den ganzen Grund- j 
besitz in Händen. Als aber die Zahl der minder berechtigten Bürger durch 
Zuzug vom platten Lande wuchs und unter diesen das Handwerk aufblühte, da
	        
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