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183. Die treue Gudrun.
den, zu Männern herangewachsen wären. Vorher aber begruben sie mit
lauter Klage ihre Toten, und namentlich dem geliebten König Hettel
schütteten sie einen gewaltigen Grabhügel auf; auch den von den Nor¬
mannen zurückgelassenen Leichen erwiesen sie die letzte Ehre.
4. Wie Gudrun in die Normandie kam,
Die entflohenen Räuber näherten sich unterdessen ihrer Heimat. Als
sie von ferne die Burgen derselben gewahrten, redete König Ludwig
Gudrun zu, dass sie seinen Sohn heirate; aber empört durch die Nieder¬
trächtigkeit ihrer Entführer und in tiefem Schmerz über den Tod ihres
Vaters erklärte sie heftig, eher würde sie sterben, als dass sie Hartmut
zum Gemahl nähme, sie hasse ihn und seine ganze feige Sippe. Da
ergrimmte Ludwig; er erfasste die Jungfrau an ihrem langen, blonden
Haar und schleuderte sie mit starker Kaust weithin ins Meer. Sogleich
sprang jedoch Hartmut ihr nach und rettete sie in eine Barke. Gudruns
Herz aber konnte er dadurch nicht gewinnen.
Als sie nun in Normandie das Land betraten, kamen ihnen erwartungs¬
voll Hartmuts Mutter, die böse Gerlinde, und seine liebliche Schwester
Ortrun entgegen. Die letztere küsste die heimatlose Gudrun und zeigte
durch Thränen ihr tiefes Mitgefühl, sodass sich vom ersten Augenblick an
eine innige Freundschaft zwischen den beiden Jungfrauen entspann. Als
nun aber auch die arglistig lauernde Gerlinde herantrat, um Gudrun zu
begrüssen, stiess diese sie heftig zurück; denn in ihr sah sie die Haupt¬
anstifterin ihres Unglücks, und in ihrem Blicke fühlte sie eine böse Seele.
Von da an warf das arge Weib einen tödlichen Hass auf die arme Jung¬
frau, und sie dachte mehr darauf, dieselbe zu quälen, als sie der Heirat
mit ihrem Sohne geneigt zu machen.
5. Wie Gudrun als Magd gehalten ward.
Hartmut erneuerte allerdings wieder seine Bewerbungen um Gudrun;
da sie dieselben aber entschieden zurückwies, so empfahl er sie der liebe¬
vollen Fürsorge seiner Mutter und zog für eine Reihe von Jahren auf
Abenteuer aus. Gerlinde aber begann nun, Gudrun nach ihrer Weise zu
erziehen: sie hielt sie kärglich und strenge und zwang ihre Gefährtinnen,
die niedrigsten Mägdedienste zu verrichten. Unter den mit der Königs¬
tochter geraubter^Jungfrauen befand sich eine namens Hergart, die schönste
und vornehmste nächst ihr selber: diese musste Wasser tragen und im
Winter die Öfen heizen, aber bald ward dadurch ihr Mut gebrochen, und
sie beugte sich den Unterdrückern und ward ihrer Gebieterin untreu.
Desto fester hielten die anderen Frauen zu ihrer Herrin, und besonders
war die treue Hildburg eine feste und sichere Stütze für Gudrun. Diese
selbst trug ihr bitteres Los ohne Klage, aber keinen Augenblick wankte
sie in der Treue gegen den ihr verlobten Herwig: ob auch Monde auf
Monde und Jahre auf Jahre während ihrer Erniedrigung dahinschwanden,
so liess sie doch die Hoffnung auf ihre endliche Befreiung nicht fahren,
und ihren Peinigern blieb sie kalt und fremd, wie sie es von Anfang an
gewesen war. Nur gegen die Freundlichkeit der lieblichen Ortrun, der