Full text: [Teil 2 = Für obere Klassen] (Teil 2 = Für obere Klassen)

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46. Die Stimme des Gerichts 
13. So hatte die Sonn' eine Zunge nun, 
der Frauen Zungen ja nimmer ruhn. 
„Gevatterin, um Jesus Christ! 
laßt Euch nicht merken, was Ihr nun wißt!" 
Nun bringt die Sonn' es an den 
Tag. 
14. Die Raben ziehen krächzend zumal 
nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl. 
„Wen flechten sie aufs Rad zur Stund'? 
Was hat er gethan? wie ward es kund?" 
Die Sonne bracht' es an den Tag! 
Chamisso. 
46. Die Stimme des Gerichts. 
Tjün reicher Mann, Namens Chryses, gebot seinen Knechten, eine arme 
Witwe samt ihren Kindern aus einem seiner Häuser zu vertreiben, 
weil sie den jährlichen Zins nicht zu zahlen vermochte. Als die Diener 
nun kamen, sprach das Weib: „Ach, verziehet ein wenig; vielleicht, dass 
euer Herr sich unser erbarme; ich will zu ihm gehen und ihn bitten.“ 
Darauf ging die Witwe zu dem reichen Manne mit ihren vier Kindern, 
denn eins lag krank danieder, und alle flehten inbrünstig, sie nicht zu 
verstossen. Chryses aber sprach: „Meine Befehle kann ich nicht ändern, 
es sei denn, dass ihr eure Schuld sogleich bezahlet.“ 
Da weinte die Mutter bitterlich und sagte: „Ach, die Pflege eines 
kranken Kindes hat all mein Verdienst verzehrt und meine Arbeit gehindert.“ 
Und die Kinder fleheten mit der Mutter, sie nicht zu verstossen. 
Aber Chryses wandte sich hinweg von ihnen und ging in sein Garten¬ 
haus und legte sich auf ein Polster, um zu ruhen, wie er pflegte. Es war 
aber ein schwüler Tag, und dicht an dem Gartensaal floss ein Strom, der 
verbreitete Kühlung; und es war eine Stille, dass kein Lüftchen sich regte. 
Da hörte Chryses das Gelispel des Schilfes am Ufer; aber es tönte 
ihm gleich dem Gewinsel der Kinder der armen Witwe, und er ward 
unruhig auf seinem Polster. 
Darnach horchte er auf das Rauschen des Stromes; und es deuchte 
ihm, als ruht’ er an dem Gestade eines unendlichen Meeres; und er wälzte 
sich auf seinem Pfühle. 
Als er nun wieder horchte, erscholl aus der Perne der Donner eines auf¬ 
steigenden Gewitters; da war ihm, als vernahm’ er die Stimme des Gerichts. 
Nun stand er plötzlich auf, eilte nach Hause und gebot seinen Knechten, 
der armen Witwe das Haus zu öffnen. Aber sie war samt ihren Kindern 
in den Wald gegangen und nirgends zu finden. Underdessen war das 
Wetter heraufgezogen, und es donnerte, und fiel ein gewaltiger Regen. 
Chryses aber war voll Unmuts und wandelte umher. 
Am andern Tage vernahm Chryses, das kranke Kind sei im Walde 
gestorben, und die Mutter mit den andern hinweggezogen. Da ward ihm 
sein Garten samt dem Saal und dem Polster zuwider, und er genoss nicht 
mehr der Kühlung des rauschenden Stromes. 
Bald darnach fiel Chryses in eine Krankheit, und immer in der Hitze 
des Fiebers vernahm er des Schilfes Gelispel und den rauschenden Strom 
und das dumpfe Tosen des aufsteigenden Wetters. Also verschied er. 
„Seid barmherzig, wie euer himmlischer Vater barmherzig ist!“ 
Krummacher.
	        
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