V. Die Stadt und ihre Bewohner.
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85. Die Bettlerin.
Zur Zeit der Theurung ging eine unbekannte Bettlerin,
dio sehr ärmlich, jedoch sehr reinlich gekleidet war, im Dorse
umher und flebte um Almosen.
Bei einigen Hàusern vurde sie mit rauhen Worten abge-
wiesen, bei andern bekam sie eine sehr geringe Gabe; nur
ein armer Bauer rief sie, da es sehr kalt war, herein in die
warme Stube, und die Bäuerin, die eben Kuchen gebacken
hatte, gab ihr ein schönes, grosses Stück davon.
Am folgenden Tage wurden alle die Leute, bei denen
die Unbekanute gebettelt hatte, in das Schloss zum Abend-
essen eingeladen. Als sie in den Speisesaal traten, erblickten
sie ein LMeines Tischehen voll köstlicher Speisen, und eine
grosse Tafel mit vielen Tellern, auf denen hier und da ein
Stuckchen verschimmeltes Brod, ein paar Erdäpfel, oder eine
Hand voll Reie, meistens aber gar nichts zu sehen war.
Dig Prau des Schlosses aber sprach: „Ieh war jene
verkleidete Bettlerin und wollte bei dieser Zeit, vo es den
Armen s0o hart geht, eure Voblthätigkeit auf die Probe
gtellen. Die zwei armen Leute hier bewirtheten mich, so
gut sio Konnten, sie speisen desshalb jetzt mit mir und ich
Verde ihnen ein Jahrgeld auswerfen; ibr Anderen aber
nehmt wit den Gaben vorlieb, die ihr mir gereicht habt und
hier auf den Tellern erblickt. Daher bedenkt, dass man euch
einmal in jener Welt auch so auftischen verde.“
Wie man die Aussaat hier bestellt,
So erntet man in jener Welt.
Ohr. Schmid.
86. Unsichero Zuversicht.
Pah! meint der reiche Kunz, wver Geld im SsSack, und
8cheunen und Reller voll hat, der ist ein geborgener Mann!
— Rupzchen, dein Sack kann ein Loch kriegen, dein Korn
der rothe Hahn fressen, dein Vorrath in Hamstersäcke wan-
dern und ungefragt in fremde Schläuche flüessen! Und gelbst
wenn du am meisten auf deine gefüllten Taschen Klopfst,
dass die Thaler und Dukaten nur so klingen und Klimpern,
go kann's leicht heissen: „Heute Nacht wird man deine
geele von dir nehmen, und wess wird's sein, das du be—
roeitet hast? H. Dittmar.
Lebensbilder 11.