Full text: Lesebuch für Mittelklassen deutscher Volksschulen (2, [Schülerband])

VA Die Stadt und ihre Bewohner. 
6. 
89. Frau Holle. 
Eine Wittwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön 
und faul, die andere häßlich und fleißig. Sie hatte aber die 
schöne und faule viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit 
hun und war recht der Aschenputtel im Hause. Einmal war das 
Mãdchen hingegangen, Wasser zu holen, und wie es sich bückte, 
den Eimer aus dem Brunnen zu ziehen, bückte es sich zu tief und 
fiel hinein. Und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, 
ar es auf einer schönen Wiese, da schien die Sonne und waren 
viel tausend Blumen. 
Auf der Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der 
war doller Bod, vas Brod aber rief: „Ach, zieh mich raus! 
zieh mich raus! sonst verbrenn ich.“ Da trat es fleißig hinzu 
In holle Aes heraus. Darnach ging es weiter und kam zu 
icn Baume, der hing voller Aepfel und rief ihm zu: „Schüttle 
ich schuttle mich! die Aepfel sind alle mit einander reif.“ Da 
schuttelte es den Baum, daß die Aepfel fielen, als regneten sie, so 
ange bis keiner mehr oben war. Darnach ging es wieder fort. 
Endlich kam es zu einem kleinen Hause, daraus guckte eine alte 
Frau; weil sie aber so große Zuhne hatte, ward ihm angst, und 
vollte fortlaufen. Die alte drau aber rief ihm nach: „Fürchte 
bich moeht, lebes Kind, bleib bei mir! Wenn du alle Arbeit 
In Haufe ordentlich thun willst, so soll dir's gut gehen; nur 
mußt du recht darauf Acht geben, daß du mein Bett gut machst 
Und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen; dann schneit 
in da Welie Ich bin die Frau Holle.“ Weil die Alte so 
gut sprach, willigte das Mädchen ein und begab sich zu ihrem 
Dienste Es besorxgte auch Ales zu ihrer Zufriedenheit und schüt⸗ 
le ihr das Bett immer gewaltig auf; dafür hatte es auch ein 
gut Leben bei ihr, kein böses Wort und alle Tage Gesottenes und 
Gebratenes. 
Run war es eine Zeit lang bei der Frau Holle; da ward 
es traurig in seinem Herzen, und ob es hier gleich viel tausend⸗ 
mal besser war, als zu Hause, so hatte es doch ein Verlangen 
dahin. Endlich sagte es zu ihr: „Ich habe die Sehnsucht nach 
Hause bekommen, und wenn es mir auch noch so gut hier geht, 
so kann ich doch nicht länger bleiben.“ Die Frau Holle sagte: 
„Du hast Recht, und weil du mir so treu gedient hast, so will 
(h dich selbst wieder hinauf bringen.“ Sie nahm es darauf 
bei der Hand und fuhrte es vor ein großes Thor. Das ward 
aufgethan, und wie das Mädchen darunter stand, fiel ein 
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