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Einst ließ er in Thüringen neunundzwanzig gefangene Raubritter in seiner
Gegenwart zu Erfurt hinrichten. Über ein Jahr verweilte er hier, bis alle
Raubschlösser — es waren sechsundsechzig — gebrochen waren.
Rudolf wünschte die deutsche Krone seinem Sohn Albrecht, der von seinen
5 Söhnen allein noch am Leben war, zu hinterlassen. Allein die Fürsteil
fürchteten die schnell emporstrebende Größe des Habsburgischen Hauses und
den finsteren, harten und abschreckenden Sinn Albrechts. Sie wichen daher
den Anträgen Rudolfs aus. Mißvergnügt verließ dieser Frankfurt und ging,
schon krank und schwach, nach Straßburg. Als er die Nähe des Todes fühlte,
IO rief er: „Wohlan, nach Speier!" Hier, an der Begräbnisstätte der Kaiser,
wollte er sein Ende erwarten, aber er kam nur bis Germersheim, wo er in
einem Alter von dreiundsiebzig Jahren starb (1291).
Rudolf hatte den Ruhm der Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit sein
ganzes Leben hindurch bewahrt. Seine Gestalt war sehr hoch und schlank,
15 seine Sitten einfach; Speise und Trank genoß er mäßig. Er trug gewöhnlich
ein schlichtes graues Wams, das er sich wohl im Felde selbst flickte. Wenn
er sprach, gewann er durch biedere Zutraulichkeit und war ein Freund von
fröhlichen Reden und munteren Scherzen. Niemals ließ er es aber an Ernst
und Ausdauer in seinen Unternehmungen fehlen. Als seinem Heere einst die
20 Zufuhr abgeschnitten war, zog er eine Rübe aus dem Felde und aß sie roh,
worauf die Kriegsleute ohne Murren seinem Beispiele folgten. Endlich, als
nirgends mehr etwas zu finden war, ließ er die Feinde angreifen. „Siegen
wir," sprach er, „so bekommen wir Lebensmittel genug; werden wir besiegt,
so erhalten die Gefangenen wohl Essen und Trinken." Versprechungen und
25 Zusagen hielt er treu und fest, so daß noch lange das Sprichwort blieb:
„Der hat Rudolfs Redlichkeit nicht."
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80. Schützenlied.
(Schiller.)
Mit dem Pfeil, dem Bogen
durch Gebirg und Thal
kommt der Schütz gezogen
früh am Morgenstrahl.
Ihm gehört das Weite,
was sein Pfeil erreicht,
das ist seine Beute,
was da kreucht und fleugt.
Wie im Reich der Lüste
König ist der Weih,
durch Gebirg und Klüfte
herrscht der Schütze frei.
81. Wilhelm Tell.
(Sage. — Bäßler.)
Unter dem Kaiser Albrecht that Geßler, Landvogt zu Uri und Schwyz,
40 den Laudleuten daselbst großen Zwang an, hielt sie streng und hart und nahm
sich vor, eine Feste in Uri zu bauen, damit er und andere Landvögte nach ihm
um so sicherer dort wohnen möchten, wenn Aufruhr entstände, und auch das
Land in desto größerer Furcht und in Gehorsam erhalten würde. Er ließ also
Steine, Kalk, Sand und Zimmerholz auf einen bei Altorf, dem Hauptflecken,
45 gelegenen Hügel führen und fing an, den Bau ins Werk zu richten, und wenn
ihn jemand fragte, wie die Feste heißen werde, antwortete er: „Zwing Uri
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