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197. Die wundervolle Ordnung des Staates.
Die biblische Geschichte erzählt uns von Abraham und Lot, wie sie
in Streit über ihre Weideplätze gerieten, aber sich lieber mit ihren Herden
trennten, als uneinig zusammen lebten. Sie konnten dieses Auskunftsmittel
zum Frieden ergreifen; denn sie waren als Nomaden nirgends angesiedelt.
Hätten sie aber einen festen Wohnplatz gehabt, so blieb ihnen nichts übrig,
als sich zu vertragen. Und was wäre wohl das nächste für diesen Zweck
gewesen, um häufigen Streit zu verhüten? Offenbar mußten sie ihren
Besitz genau abgrenzen. Wenn nun die Zahl der Zusammenwohnenden
wuchs, wenn nicht mehr jeder für seine Bedürfnisse selbst sorgte, sondern
der eine dieses, der andere jenes Gewerbe trieb und sich zunächst ein
Tauschhandel entwickelte; wenn dadurch die Fragen über das „Mein und
Dein“ immer schwieriger wurden; wenn endlich unter den durch ihre Wohn—
sitze verbundenen Köpfen auch unruhige waren, welche in Schranken gehalten
und nötigenfalls durch Strafen von der Wiederholung ihrer Ruhestörungen
und Missethaten abgeschreckt werden mußten: so ist leicht einzusehen, daß
es fester Gesetze bedurfte, durch welche Handel und Wandel geregelt und
jedem das Maß seiner Freiheit zugewiesen wurde, damit er die andern
nicht in ihren Ansprüchen auf die gleiche Freiheit beeinträchtigte. Und nicht
nur mußte bestimmt werden, was als Recht gelten sollte, sondern auch,
wer es zu verwalten und darüber zu wachen habe, daß es nicht über—
treten würde.
Schon das Zusammenleben nomadischer Hirtenstämme ist undenkbar
ohne gewisse rechtliche Bestimmungen und ohne die Unterordnung der
Menge unter ein gemeinsames Oberhaupt. Wieviel weniger läßt sich
eine aus so vielen und so verschiedenartigen Bestandteilen bestehende Ge—
meinschaft denken, wie diejenige, in der wir leben, ohne daß noch eine weit
genauere Bestimmung dafür getroffen ist, daß jedem das Seine werde: dem
Käufer und Verkäufer, dem Gläubiger und Schuldner, dem Herrn wie dem
Diener, dem Unterthanen wie dem Fürsten ꝛc. Ein solches strenggeordnetes,
wohlgegliedertes Ganze aber, worin jedem seine Rechte und Pflichten an—
gewiesen sind und für die Vollziehung beider gesorgt wird, ist der Staat.
Mit diesem Worte haben wir die vollkommenste Form des gesellschaft—
lichen Zusammenlebens ausgesprochen. Wie der Ackerbau die Grundlage für
alle höhere Gesittung ist, so ist der Staat die vollendetste Ausbildung der—
selben; alle Güter des Kulturlebens finden in seinem Schoße ihren Schutz
und ihre Pflege.
Was sollte aus uns werden, wenn plötzlich alles das aufhörte, was
wir jetzt an staatlicher Fürsorge genießen; wenn sich außer unsern nächsten
Angehörigen niemand mehr um uns bekümmerte; wenn wir Haus und Hof,
Handel und Wandel und selbst unser Leben und Sterben dem bloßen guten
Willen der Menschen anheimstellen müßten; wenn jeder sich selbst zu schützen
hätte und uns keine Obrigkeit bewachte! Wie schnell wären alle die Güter
vernichtet, deren wir uns jetzt erfreuen, wie rasch würden wir in jenen
Zustand zurücksinken, wo jeder allein für sich sorgt und nur das Recht des