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Stärkeren gilt! Was würde aus allen den gemeinnützigen Einrichtungen
werden, die jetzt unser Leben fördern und uns Sicherheit oder doch, wenn
das Unglück einmal nicht zu verhüten ist, Hilfe bieten, und zwar nicht nur
gegen die Eingriffe der Menschen, wie Diebstahl, Mord ꝛc., sondern auch
gegen zerstörende Naturgewalten, wie Feuers- Wassers- und Hungersnot,
verheerende Krankheiten ꝛc. Es würde sich das Wort Schillers erfuͤllen:
„Nichts Heiliges ist mehr, es lösen
sich alle Bande frommer Scheu;
der Gute räumt den Platz dem Bösen,
und alle Laster walten frei.“
Und wenn wir etwa meinen wollten, dafür sei der Staat, den sich
überhaupt manche fälschlich nur als einen unbequemen Gebieter und Steuer
forderer denken, nicht notwendig, das nämliche ließe sich auch durch eine
einfache Verabredung der Bürger untereinander erreichen: so fragt euch nur,
wie lange es mit dem guten Willen aller einzelnen Mitglieder einer solchen
Gesellschaft dauern würde, an der jemand nur teilnühme, wie etwa an
einem Turnvereine oder Sängerbunde, wie lange es dauern würde, wenn
nicht das zwingende Band des Staates das Ganze zusammenhielte! Gewiß
ist es eine lobenswerte Sache um die vielen Vereine, welche die Menschen,
zumal in unseren Zeiten, gründen, wie z.B. Sparkassen, Witwenkassen,
Lebens-, Feuer-, Wasser- und Hagelversicherungen u. dgl. Aber alle diese
Genossenschaften können sich nur bilden, wo schon ein Staat vorhanden
ist, und sie haben ihren Bestand nur unter dem Schutze der staatlichen
Ordnung, die der Dichter eine segensreiche Himmelstochter nennt. Die
Stadt- oder Dorfgemeinde kann ihre Zwecke nur erfüllen, insofern sie als
ein Glied in jenes größere Ganze eingefügt ist.
Wenn man von einem Steine ein Stück abschlägt, so wird er zwar
kleiner, allein er bleibt, was er war: ein Stein. Venn man aber eine
Pflanze oder einen Tierkörper zerschneidet, bleiben etwa beide auch noch,
was sie zuvor waren? Hat man vielleicht zwei, drei, sechs Pflanzen oder
zwei, drei, sechs Tiere, wenn man beide in diese Anzahl von Stücken zer—
schnitten hat? Und wenn jemand etwa in der Meinung, die Pflanze oder das
Tier wieder zu ergänzen, dieses Stück wieder zusammensetzen wollte, wäre
es auch mit dem kräftigsten Kitte: würde ihm das gelingen? Natürlich nicht.
Der Leib einer Pflanze oder eines Tieres ist eben mehr als die bloße
Zusammenreihung seiner Teile: es ist ein lebendiges, ein unteilbares
Ganze. Die einzelnen Teile bilden seine Glieder und dienen ihm als
Werkzeuge oder Organe für seine Ernährung, sein Wachstum und seine
übrigen Lebensverrichtungen. Alle diese Glieder stehen im Zusammenhange,
und jedes ist dem Ganzen notwendig. Ganz ähnlich nun verhält s sich
mit dem Staate. Auch er ist ein organisches Gebilde, ein gesellschaft⸗
licher Organismus. Auch in dem Staatskörper bewegt sich ja eine Fülle
von Kräften auf und ab, und durchtränkt nährender Saft geistigen und sitt—
lichen Lebens das in steter Entwickelung begriffene Ganze; auch in ihm
findet eine reiche Gliederung und ein unzerreißbarer Zusammenhang der
einzelnen Teile statt, und ein jeder ist gleichsam ein notwendiges Blatt, ja