316
Die Staaten bilden sich, wie wir gesehen, aus den Familien, indem
diese sich zu Stämmen erweitern und die gleichartigen Stämme sich zu-
sammenthun. In nichts aber zeigt sich die Stammesverwandtschaft deut-
licher als in der Sprache. Dahber auch der schöne Ausdruck „Mutter-
sprache“. Er bedeutet nieht bloss, dass die heimatliche Sprache die
Sprache ist, die das Kind zuerst von der Mutter vernimmt, sondern
dass die Sprache selbst in einer Art von mütterlicher Beziehung zu
uns steht. So heimisch fühlen wir uns in ihr. Sie ist darum das Er-
Kkennungszeichen eines Stammes, eines Volkes. Wodurch 2. B. er—
scheint uns der Franzose vor allem andern als Franzose, der Engländer
als Engländer? Weil jener französisch, dieser englisch spricht. Und
dies ist so, wenn jener auch etwa in der Schweiz, dieser in Amerika
lebt; wie ja auech uns der Deutsche als ein Stammesverwandter er—
scheint, mag er einem Staute angehören, welchem er wolle. Es ist
deshalb aueh so verkehrt und dem unnatürlichen Hasse zweier Brüder
vergleichbar, wenn die deutschen Stämme untereinander hadern; und
mit Recht freuen wir uns darum so innig des Zieles, das wir in dem
grosssen Kampfe?) mit dem schlimmen Nachbar für die Einigung der
deutschen Stümme selbst erreicht haben. Ging doch von jeher die Sehn-
sucht aller braven Deutschen dabin, dass die einzelnen deutschen Staaten
nicht wie fremde Völker einander gegenüberstehen, sondern durch die
innigsten Bande aueh in staatlicher Beziehung verbunden sein und ein
einiges grosses Reich bilden möchten, wo der Preusse nicht mehr dem
Bayern (oder umgekehrt) als ein Ausländer erscheint, und sieh der
Schwabe auch in Berlin nicht mehr fremd fühlt.
So berubt in der Dat alles, was wir Volk und Staat nennen, autf
natürlichen, d. B. verwandtsehaftlichen Beziehungen. Wir haben ein
Wort, um diese Beziehungen zu bezeichnen; es ist zwar Lkein deutsches
Wort, aber bei uns eingebürgert. Nation nennen wir ein Volk, wenn
wir andeuten wollen, dass dieses Volk keine zusammengewürfelte Nasse,
sondern dureh gemeinschaftliche Abstammung (welches Wort ja von
„Stamm“ herkommt) eins geworden sei.
Eine Nation kann nun in demselben Lande zerstreut wohnen, ohne
einen geschlossenen Staat zu bilden, wie 2. B. die Stämme der Indianer;
oder sie kann in verschiedenen Ländern und Staaten zerstreut wohnen, wie
die Juden und die europäischen Kolonisten Amerikas und Australiens;
ocder es kKönnen, umgekehrt, verschiedene Nationen in einem Staatsverband
leben, wie 2z. B. in der Sehweiz Deutsche, Franzosen und Italiener (um
von dem Völkergemisch in österreich nicht zu reden): immerhin werden
diejenigen, welehe die gleiche Sprache reden, eine gewisse Zusammen-
gehõörigkeit empfinden. Und gewiss ist das Band der Nationalität ein
schönes und tief berechtigtes. Aber höher steht gleichwohl das sittliche
Band des Staates. Und nur, wo es einem Staate nicht gelungen ist, die
verschiecenen Nationen zu einem Ganzen zu einigen und ganz in sich
9 1870/71.