Full text: Oberstufe, Oberabteilung, (1. Klasse der Berliner Gemeindeschule) (Teil 5, [Schülerband])

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Die Staaten bilden sich, wie wir gesehen, aus den Familien, indem 
diese sich zu Stämmen erweitern und die gleichartigen Stämme sich zu- 
sammenthun. In nichts aber zeigt sich die Stammesverwandtschaft deut- 
licher als in der Sprache. Dahber auch der schöne Ausdruck „Mutter- 
sprache“. Er bedeutet nieht bloss, dass die heimatliche Sprache die 
Sprache ist, die das Kind zuerst von der Mutter vernimmt, sondern 
dass die Sprache selbst in einer Art von mütterlicher Beziehung zu 
uns steht. So heimisch fühlen wir uns in ihr. Sie ist darum das Er- 
Kkennungszeichen eines Stammes, eines Volkes. Wodurch 2. B. er— 
scheint uns der Franzose vor allem andern als Franzose, der Engländer 
als Engländer? Weil jener französisch, dieser englisch spricht. Und 
dies ist so, wenn jener auch etwa in der Schweiz, dieser in Amerika 
lebt; wie ja auech uns der Deutsche als ein Stammesverwandter er— 
scheint, mag er einem Staute angehören, welchem er wolle. Es ist 
deshalb aueh so verkehrt und dem unnatürlichen Hasse zweier Brüder 
vergleichbar, wenn die deutschen Stämme untereinander hadern; und 
mit Recht freuen wir uns darum so innig des Zieles, das wir in dem 
grosssen Kampfe?) mit dem schlimmen Nachbar für die Einigung der 
deutschen Stümme selbst erreicht haben. Ging doch von jeher die Sehn- 
sucht aller braven Deutschen dabin, dass die einzelnen deutschen Staaten 
nicht wie fremde Völker einander gegenüberstehen, sondern durch die 
innigsten Bande aueh in staatlicher Beziehung verbunden sein und ein 
einiges grosses Reich bilden möchten, wo der Preusse nicht mehr dem 
Bayern (oder umgekehrt) als ein Ausländer erscheint, und sieh der 
Schwabe auch in Berlin nicht mehr fremd fühlt. 
So berubt in der Dat alles, was wir Volk und Staat nennen, autf 
natürlichen, d. B. verwandtsehaftlichen Beziehungen. Wir haben ein 
Wort, um diese Beziehungen zu bezeichnen; es ist zwar Lkein deutsches 
Wort, aber bei uns eingebürgert. Nation nennen wir ein Volk, wenn 
wir andeuten wollen, dass dieses Volk keine zusammengewürfelte Nasse, 
sondern dureh gemeinschaftliche Abstammung (welches Wort ja von 
„Stamm“ herkommt) eins geworden sei. 
Eine Nation kann nun in demselben Lande zerstreut wohnen, ohne 
einen geschlossenen Staat zu bilden, wie 2. B. die Stämme der Indianer; 
oder sie kann in verschiedenen Ländern und Staaten zerstreut wohnen, wie 
die Juden und die europäischen Kolonisten Amerikas und Australiens; 
ocder es kKönnen, umgekehrt, verschiedene Nationen in einem Staatsverband 
leben, wie 2z. B. in der Sehweiz Deutsche, Franzosen und Italiener (um 
von dem Völkergemisch in österreich nicht zu reden): immerhin werden 
diejenigen, welehe die gleiche Sprache reden, eine gewisse Zusammen- 
gehõörigkeit empfinden. Und gewiss ist das Band der Nationalität ein 
schönes und tief berechtigtes. Aber höher steht gleichwohl das sittliche 
Band des Staates. Und nur, wo es einem Staate nicht gelungen ist, die 
verschiecenen Nationen zu einem Ganzen zu einigen und ganz in sich 
9 1870/71.
	        
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