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Regengüsse an seinem oberen Laufe eintreten, schwillt der untere Nil bald
nach der Sommersonnenwende langsam und allmählich an. Gegen Ende des
Juli tritt er aus seinen Ufern und überflutet das ganze Thal bis an die
änschließenden Bergreihen, so daß er gegen Ende September mehr als sechs
Melcr uͤber dem niedrigften Wasserstande steht. Ebenso allmählich, wie er
gestiegen, fällt er nach einer Überschwemmung von mehr als vier Monaten
auf seinen gewöhnlichen Wasserstand zurück. Infolge der Langsamkeit und
Ruhe dieser Bewegung schlägt sich überall, soweit das Wasser hinaufreicht,
fruchtbarer Schlamm nieder, und die starke Vermehrung der Wassermenge
giebt der Luft gerade in der heißesten Zeit des Juli und August Abkühlung.
Trotzdem herrscht in Oberägypten, wo der blaue und glänzende Himmel fast
niemals durch Regenwolken getrübt wird, in dem eingeschlossenen Thal starke
Hitze, und die Südweststürme treiben den Sand und Staub der Sahara
zuweilen über die libyschen Berge bis in den Nil hinein. Dem Delta sendet
die Nähe des Meeres zuweilen Regengüsse, und fast acht Monate hindurch
wird der ganze untere Teil des Thales von erfrischenden Nordwinden durch—
weht, die zugleich die Schiffahrt gegen den Strom erleichtern.
Dieses Gebiet war in ganz Afrika am meisten geeignet, die Entstehung
einer dichten Bevölkerung, einer höheren Bildung zu begünstigen und zu
fördern. Hier gab es einen Boden, der durch die Natur selbst jährlich von
neuem befruchtet fast ohne Arbeit reichliche Ernten trug und dadurch den
Übergang zum Ackerbau, zu festen Wohnsitzen und geordnetem Besitz sehr
leicht machte. Wenn in Nubien die Wasserfälle den Verkehr auf dem Flusse,
Felsenketten und wüste Strecken die Verbindung zu Lande unterbrachen und
das Leben auf das Gebiet des einzelnen Stammes, auf das heimische Thal
beschränkten, so nötigte Ägypten fast zum Leben in größerer Gemeinschaft,
weil ihr Fluß und Land innerhalb der beiden Bergreihen kein Hindernis
entgegenstellten.
Aber die jährlich wiederkehrende Überschwemmung zwang auch früh—
zeitig, Besitz und Herden vor dem Wasser zu bergen, die Wohnungen zu
fichern und die Zeit des steigenden und fallenden Wassers zu beobachten.
Auf die lange Dauer der Überschwemmung hin mußte Vorsorge getroffen
werden für den Unterhalt der Menschen und Tiere. Man mußte es lernen,
auf dem Wasser zu berkehren, wenn das ganze Thal von den Fluten des
Nils erfüllt war. Die jährliche Überschwemmung machte es notwendig, die
Grenzen der Äcker fest zu bezeichnen oder sie immer von neuem zu
regeln. Mit der steigenden Zahl der Bevölkerung in einem fest umgrenzten,
von Wuüsten umgebenen Lande mußte man versuchen, auch die höher liegen—
den Teile des Thales, welche die Überschwemmung nicht erreichte, fruchtbar
zu machen, indem man das Wasser auch hierher zu leiten suchte, und tiefer
liegende sumpfige Niederungen von ihrem Überfluß an Wasser zu befreien.
In eine so eigentümliche, zugleich begünstigte und zur Vorsorge zwingende
Natur gestellt hat Ägypten den unvergänglichen Ruhm errungen, der ersten
und ältesten Kultur der Erde den Ursprung gegeben zu haben.
Max Duncker.