Full text: Mit 43 Abbildungen (Teil 1 = (2. und 3. Schuljahr), [Schülerband])

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2. Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren 
wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Königreiche 
sollten verbrannt werden. An dem Mädchen aber wurden die Gaben der 
weisen Frauen sämtlich erfüllt; denn es war so schön, sittsam, freundlich und 
verständig, daß es jedermann, der es ansah, liebhaben mußte. Es geschah, 
daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr alt war, der König und 
die Königin nicht zu Hause waren, und das Mädchen ganz allein im Schlosse 
zurückblieb. Da ging es allerorten herum, besah Stuben und Kammern, wie 
es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Turm. Es stieg eine 
Treppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Tür. In dem Schlosse steckte 
ein verrosteter Schlüssel, und als es ihn umdrehte, sprang die Tür auf, und es 
saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau und spann emsig ihren 
Flachs. „Ei, du altes Mütterchen,“ sprach die Königstochter, „was machst 
du da?“ — „Ich spinne“, sagte die Alte und nickte mit dem Kopfe. 
„Wie das Ding herumspringt!“ sprach das Fräulein und nahm die Spindel 
und wollte auch spinnen. Kaum hatte es die Spindel angerührt, so ging 
der Zauberspruch in Erfüllung, und es stach sich damit in den Finger. 
3. In demselben Augenblick aber, wo es sich gestochen hatte, fiel es 
auch nieder in einen tiefen Schlaf. Und der König und die Königin, die 
eben zurückgekommen waren, fingen an einzuschlafen und der ganze Hofstaat 
mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall ein, die Hunde im Hofe, 
die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand; ja das Feuer, das 
auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte 
auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas 
versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief, und 
alles, was lebendigen Odem hatte, ward still und schlief. 
4. Um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes 
Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß so umzog und darüber 
hinauswuchs, daß gar nichts mehr zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf 
dem Dache. Es ging aber die Sage in dem Lande von dem schönen, schlafenden 
Dornröschen — denn so wurde die Königstochter genannt — also, daß 
von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloß 
dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich; denn die Dornen hielten, 
als hätten sie Hände, fest zusammen, und die Jünglinge blieben daran hängen 
und starben jämmerlich. 
5. Nach langen, langen Jahren kam wieder ein Königssohn durch das 
Land; dem erzählte ein alter Mann von der Dornenhecke, es solle ein Schloß 
dahinter stehen, in dem ein wunderschönes Jungfräulein, Dornröschen genannt, 
mit dem ganzen Hosstaate schlafe. Er erzählte auch, daß er von seinem Groß— 
vater gehört habe, wie viele Königssöhne schon gekommen wären, um durch
	        
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