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Hofstaat und sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im
Hofe standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten,
und die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unter dem Flügel her—
vor, sahen umher und flogen ins Feld; die Fliegen an den Wänden krochen
weiter; das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen,
und der Braten brutzelte fort; der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige,
daß er schrie, und die Magd rupfte das Huhn fertig. Und da wurde die
Hochzeit des Königssohnes mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert,
und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende. Jakob und Wilhelm Grimm.
70. Sneewittchen.
1. Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie
Federn vom Himmel herab; da saß eine Königin an einem Fenster, das
einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie
so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in
den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil
das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: „Hätt' ich
ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das
Holz an dem Rahmen.“ Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war
so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz
und ward darum das Sneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie
das Kind geboren war, starb die Königin.
2. über ein Jahr nahm sich der König eine andre Gemahlin. Es war
eine schöne Frau; aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht
leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie
hatte einen wunderbaren Spiegel; wenn sie vor den trat und sich darin
beschaute, sprach sie:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
so antwortete der Spiegel:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“
Da war sie zufrieden; denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahrheit sagte.
Sneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als
es sieben Jahr alt war, war es so schön wie der klare Tag und schöner
als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte;:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“