Full text: Mit 51 Abbildungen (Teil 2 = (4. und 5. Schuljahr), [Schülerband])

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war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, der neben 
ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute, rief sogleich: „Mutter, 
einen Groschen, ich hole das Brot!“ Dann sagte er zum Vater: „Heute 
aber laufe ich nicht lange herum. Wenn es beim Torbäcker kein Brot 
gibt, gehe ich wieder einmal zu dem Herrn Paten hinüber.“ Der Gerber 
sagte nicht ja und nicht nein darauf und ließ den Knaben ziehen. Im 
ersten Brotladen hatten aber die Wecken schon alle ihre Käufer gefunden, 
und Helm kam wieder zum Tore herein, laut singend, daß es die ganze 
Gasse hören konnte: „Heut' geh' ich zum Herrn Paten! Heut' geh' ich 
zum Herrn Paten!“ Ungehalten über den argen Schreihals wollte der 
Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster auf⸗ 
bringen konnte, war der kleine Sänger schon zum Tempel hinein und 
kehrte nach einigen Augenblicken — als Friedensbote wieder zurück. 
Slatt des Ölzweiges hatte er einen geschenkten Eierring in der Hand 
und rief, über die Schwelle in die Stube hereinstolpernd: „Der Herr 
Pate läßt Vater und Mutter recht schön grüßen, und ich soll bald 
wiederkommen.“ 
Noch an dem nämlichen Abend wechselten die Nachbarsleute einige 
freundliche Worte über die Gasse; am folgenden saßen die weiße und die 
gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen; am dritten zeigten 
die Frauen einander die Leinwand, zu der sie in den bösen drei Jahren 
oft mit ihren Tränen über den unseligen Zwist der Männer den Faden 
genetzt hatten. 
Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt 
hatte; denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet schnell 
in ein Nervenfieber und aus diesem nach wenigen lichten Augenblicken in 
den Todesschlummer. Karl Stöber. Erzählungen.) 
38. Vom Wolf und Lämmlein. 
Ein Wolf und ein Lämmlein kamen beide von ungefähr an einen 
Bach, um zu trinken; der Wolf trank oben am Bache, das Lämmlein aber 
fern unten. Da der Wolf des Lämmleins gewahr ward, lief er zu ihm 
und sprach: „Warum trübst du mir das Wasser, daß ich nicht trinken 
kann?“ Das Lämmlein antwortete: „Wie kann ich dir 's Wasser trüben? 
Trinkest du doch über mir und möchtest es mir wohl trüben.“ Der Wolf 
sprach: „Wie? Fluchst du mir noch dazu?“ Das Lämmlein antwortete: 
„Ich fluche dir nicht.“ „Ja,“ sprach der Wolf, „dein Vater tat mir vor 
sechs Monden auch ein solches“ Das Lämmlein antwortete: „Bin ich doch
	        
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