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210. Von Ems nach Berlin. 1870.
1. Der König in Ems.
Tiefer Friede ruhte über der Welt. Auch der lang hinausgesponnene
Kampf des Winters mit dem Sommer war beendet, und der warme
Sonnenschein war zur Herrschaft gekommen. Die Eisenbahnzüge füllten
sich täglich mehr mit fröhlich den Städten entfliehenden Reisenden; Kranke
und Angegriffene eilten hoffnungsvoll in die Bäder, in die Berge, an
die See
Auch das alte Bad Ems hatte sich ueu belebt durch zahlreichen Zuzug
aus allen Teilen der Erde. In dem waldigen, bergumschlossenen Tale, wo
die Lahn ihre klare Flut rheinwärts rollt, umschwirrten die verschiedensten
Sprachen die warmsprudelnden Heilquellen, und vornehme Herren und
Damen ergingen sich in den daran grenzenden Anlagen.
Seit einigen Wochen ragte eine hohe und mächtige Gestalt um
Haupteslänge hervor, ein Greis mit silberweißem Haar und Bart, aber
jugendfrisch noch in seinem Schritt und in seiner ganzen Erscheinung. Meist
in einfacher, schwarzer Kleidung erscheinend, verriet doch seine feste, stramme
Haltung auf den ersten Blick den Soldaten; ein schärferes Auge entdeckte
unter dem einfachen und leutseligen Wesen des alten Herrn den hoch—
gebornen Fürsten.
Es ist König Wilhelm, der sich alljährlich nach dem anstrengenden,
arbeitsvollen Winter in Ems einige Wochen Erholung gönnt, obgleich er
auch hier noch täglich stundenlang mit seinen Räten arbeitet. In dem
warmen Sprudel, der hier heilkräftig der Talsohle entquillt, will er sich
erfrischen und stärken zu neuer Arbeit. Die Bewohner des Städtchens
wie seine regelmäßigen Besucher freuen sich jedesmal über seine Ankunft;
jedermann hat ihn lieb wie einen alten Freund.
Vor allem ist er gern gesehen bei der Kinderwelt zu Ems. Wie
denken sich die Kleinen einen König doch so ganz anders, ehe sie einen
echten und wirklichen gesehen! Dieser trägt keine goldene Krone und
keinen Purpurmantel, ja nicht einmal Zepter und Reichsapfel, wie sie's
aus den Bilderbüchern wissen. Er hat meist nur ein Stöckchen in der
einen, eine Zigarre in der andern Hand gerade wie Papa, und er trägt
gewöhnlich einen Hut und einen schwarzen Rock mit weißer Weste gerade
wie Onkel. Doch wenn er auch im Militärrock und mit der Soldaten—
mütze spazieren geht, sieht er so freundlich und Zutrauen erweckend aus,
daß sich keins vor ihm fürchtet. Und wenn eins ihm die Hand gibt trotz
des Verbots der Mama, so schilt er nicht, sondern lächelt freundlich und
schüttelt das Händchen ganz herzlich.