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Kinderschar, dann entnahm sie ihrem Handtäschchen das gefürchtete „Rohr—
stöckchen“, und das Examen begann. Einer so reizenden und freundlichen
Lehrerin gegenüber war die Furcht bald gewichen, und das kleine Einmal
eins ging vorzüglich. Doch nein, ein achtjähriges, pausbäckiges Mädchen,
die Tochter eines Waldaufsehers, machte einen Fehler, denn bei ihm war
zweimal drei nicht mehr als fünf. Als die Prinzessin darauf „falsch“
sagte, begann die Kleine zu weinen; aber sogleich zog die Kaiserin sie an
sich, streichelte ihr die Backe und tröstete sie. Unterdessen fuhr die Prin—
zessin mit der Prüfung fort. „Wie heiße ich?“ war die weitere Frage.
„Luise! — Oh, das wissen wir sehr genau“, war die unbefangene Ant—
wort. „Richtig! Und wie heißt meine Mama?“ — „Auguste Viktoria!“
klang es aus zehn Mündchen zurück. — „Auch richtig, und der Papa?“ —
„Wilhelm der Zweite!“ war die feste Entgegnung. — „Und was ist mein
Papa?“ — „Der ist der Kaiser!“ — „Und wer ist die Mama?“ —
„Die ist unsre Kaiserin!“ — „Und wer bin ich?“ — „Du? Ja, du bist
eine Prinzessin, die schöne Kleider trägt, schöne Hüte und Schuhe, und die
immer viel Geld hat.“ Die Kaiserin und die Prinzessin lachten hell auf.
„Ganz richtig,“ meinte die hohe Frau; „doch nun genug mit dem Examen,
sonst werdet ihr müde. Jetzt kommt die Strafe für alle diejenigen, die
falsch geantwortet haben.“ Und die Prinzessin zog mit lieblichem Lächeln das
kleine Mädchen hervor, bei dem zweimal drei nicht mehr als fünf waren,
nahm sein Händchen, bog die Finger tief herunter, und — latsch! — fiel
das Ende des Rohrstäbchens auf die straffe Handfläche. Aber statt des
Schmerzes fühlte die ängstliche Kleine etwas Hartes in der Hand: es war
ein Röllchen — Schokolade. Nicht nur zehn, sondern zwanzig Händchen
streckten sich der Prinzessin entgegen. „Auch ich — auch ich — habe falsch
geantwortet!“ schrie es in der Runde, jedes Mädchen erbat sich einen oder
auch zwei „Klapse“ mit dem Zauberrohrstöckchen. Und die Lehrerin teilte
tapfer, unter endlosem Jubel der Kinder, so lange ihre Klapse aus, bis
von dem ganzen Rohrstock auch nicht ein Stück übriggeblieben war.
Natürlich probierten die Kleinen sofort den Geschmack der Süßigkeiten,
und als die Prinzessin fragte, ob das gut schmecke, antwortete das vorhin
genannte Töchterchen des Waldaufsehers: „Ach ja — aber die sind nicht
aus Rominten, die sind gewiß aus der großen Stadt, in der du wohnst,
aus — Berlin.“ Als die Kaiserin abends dem Kaiser und seiner Um—
gebung von dieser lustigen Prüfung erzählte, meinte der Kaiser lächelnd:
„Es ist doch gut, daß wir unser Prinzeßchen mitgenommen haben, sonst
wäre sie nicht Dorflehrerin von Rominten geworden.“
Nach der Damziger Beifung.