—44 —
Die Geißerchen riefen: „Zeig uns erst deine Pfoten, damit wir wissen,
daß du unser liebes Mütterchen bist.“ Da legte er die Pfote ins Fenster,
und als sie sahen, daß sie weiß war, so glaubten sie, es wäre alles wahr,
und machten die Tür auf. Wer aber hereinkam, das war der Wolf.
Sie erschraken und wollten sich verstecken. Das eine sprang unter den
Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die
Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, das
siebente in den Kasten der Wanduhr. Aber der Wolf fand sie alle und
machte nicht langes Federlesen; eins nach dem andern schluckte er in seinen
Rachen. Nur das jüngste in dem Uhrkasten, das fand er nicht. Als der
Wolf sich satt gefressen hatte, trollte er sich fort, legte sich draußen auf
der grünen Wiese unter einen Baum und fing an zu schlafen.
4. Wie die alte Geiß zurückkehrte.
Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Walde wieder heim.
Ach, was mußte sie da erblicken! Die Haustür stand sperrweit auf;
Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in
Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bette gezogen. Sie suchte
ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander
bei Namen, aber niemand antwortete. Endlich, als sie an das jüngste
kam, da rief eine feine Stimme: „Liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten.“
Sie holte es heraus, und es erzählte ihr, daß der Wolf doch gekommen
wäre und die andern alle gefressen hätte. Da könnt ihr denken, wie sie
über ihre armen Kinder geweint hat.
5. Wie sie dem Wolfe den Bauch aufschnitten.
Endlich ging sie in ihrem Jammer hinaus, und das jüngste Geißlein
lief mit. Als sie auf die Wiese kam, lag da der Wolf an dem Baum
und schnarchte, daß die Äste zitterten. Sie betrachtete ihn von allen Seuen
und sah, daß in seinem angefüllten Bauche sich etwas regte und zappelte.
„Ach Gott,“ dachte sie, „sollten meine armen Kinder, die er zum Abend—
brot hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein?“ Da mußte das Geiß—
lein nach Hause laufen und Schere, Nadel und Zwirn holen. Dann
schnitt sie dem Ungetüm den Leib auf, und kaum hatte sie einen Schnitt
getan, so streckte schon ein Geißlein den Kopf heraus, und als sie weiter
schnitt, so sprangen nacheinander alle sechs heraus, waren noch alle am
Leben und hatten nicht einmal Schaden gelitten; denn das Ungetüm hatte
sie in der Gier ganz hinuntergeschluckt. Das war eine Freude! Da
herzten sie ihre liebe Mutter und hüpften wie ein Schneider, der Hoch—
zeit hält.