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176.
Die Lorelei.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin?
Ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein;
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
2. Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar;
ihr goldnes Geschmeide blitzet;
sie kämmet ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei;
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.
3.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn,
und das hat mit ihrem Singen
die Lorelei gethan.
177. Deutschland.
Deutschland gehört zu den schönsten Lündern, welche die Sonne begrüßt in ihrem
ewigen Lauf.
Unter einem gemäßigten Himmel, unbekaunt mit der sengenden Luft des Südens,
wie mit der Erstarrung nördlicher Gegenden, in der größten Abwechselung, der reichsten
Mannigfaltigkeit, köstlich für den Anblick, erheiternd und erhebend für das Gemüth, bringt
Deutschland alles hervor, was der Mensch bedarf zur Erhaltung und zur Förderung des
Geistes, ohne ihn zu verweichlichen, zu verhärten, zu verderben. Der Boden ist fähig zu
jeglichem Anbau. Hier scheint sich die Zeugungskraft gesammelt zu haben, die dort ver—
sagt ward. Unter dem bleibenden Schnee der Alpen dehnen sich die herrlichsten Weiden
aus, von der Wärme doppelt belebt, die an jenem wirkungslos vorüberging. An der
kahlen Felswand ziehet sich ein üppiges Thal hinweg. Neben Moor und Heide, nur von
der bleichen Binse und der Brombeerstande belebt, und menschlichem Fleiße nichts gewäh—
rend, als die magere Frucht des Buchweizens und des Hafers, erfreuen das Auge des
Menschen die kräftigsten Fluren, geeignet zu den schönsten Saatfeldern und zu den herr⸗
lichsten Erzeugnissen des Gartenbaues. Fruchtbäume prangen in unermeßlicher Menge und
in jeglicher Art, vom sauern Holzapfel bis zur lieblichen Pfirsiche. Hoch auf den Bergen
des Landes erhebt unter Buchen und Tannen die gewaltige Eiche ihr Haupt zu den Wol—
ken empor und blickt über Abhänge und Hügel hinweg, welche den köstlichen Wein erzen⸗
gen, die Freude der Menschen, in der Ferne, wie in der Nähe gesucht und gewünscht von
Hohen, wie von Geringen.
Kein reißendes Thier schrecket, kein giftiges Gewürm drohet, kein häßliches Ungeziefer
quälet. Aber Ueberfluß gewähret das Land an nützlichem Vieh, an kleinem, wie an großem,
für des Menschen Arbeit, Zweck und Genüsse. Das Schaf trägt Wolle für das feinste
Gespinnst, der Stier verkündiget Kraft und Stärke in Bau und Gestalt, das Pferd geht
tüchtig einher im Fuhrwerk, prächtig vor dem Wagen der Großen und stolz als Kampfroß
unter dem Krieger, hier ausdauernd und dort.
In ihrem Innern verbirgt die Erde große und reiche Schätze Aus vielen und uner—
schöpflichen Quellen sprudelt sie freiwillig dem Menschen Heilung zu und Gesundheit und