Full text: (Für das 4. und 5. Schuljahr) (Teil 2, [Schülerband])

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Zorn der beiden Männer unter, und den Tag darauf wurden sie 
vor Gericht geladen. Der Gerber wurde verurteilt, den totgebisse— 
nen Mordax mit einem Reichstaler zu büßen, da doch, wie er sich 
als Jagdliebhaber ausdrückte, der kleine Schäker nicht einen Groschen 
wert gewesen sei. Der Bäcker mußte für den zertrümmerten Fenster— 
flügel nicht viel weniger bezahlen und sich mit seinem Widerpart 
in die aufgelaufenen Sporteln teilen. 
3. Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große 
Kluft befestigt. Hinüber und herüber über die Gasse flog kein freund⸗ 
liches Wort mehr. Ging die Gerberin links zur Kirche, so nahm die 
Nachbarin ihren Weg rechts; saß der Bäcker im Posthause außen in 
der Stube beim Bier, so nahm der Gerber seinen Plaß im Kabinett. 
Für den ganz schuldlosen Teil, für die Kinder des Gerbers, gaben 
weder der Osterhase noch der gute Märtel noch das heilige Kind 
durch die Frau Patin mehr etwas ab. 
4. So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten, 
setzten sich der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch, 
um ihren Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade 
herauszog, war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, 
der neben ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute, rief 
sogleich: „Mutter, einen Groschen! Ich hole das Brot!“ Dann 
wandte er sich in seiner kindlichen Eilfertigkeit an den Vater und 
sagte: „Heut' aber lauf' ich nicht lange umher, und wenn es beim 
Torbäcker kein Brot gibt, geh' ich wieder einmal zu dem Herrn Paten 
hinüber.“ Der Gerber, der vielleicht die anklopfende Gnadenhand 
des Herrn spürte, sagte nicht ja und nicht nein darauf und ließ 
den kleinen Unmuß ziehen. Im ersten Brotladen hatten aber die 
Wecken schon alle ihre Käufer gefunden, und Helm kam wieder zum 
Tore herein, laut singend, wie es manchmal lebhafte Kinder mit 
ihren Gedanken zu machen pflegen, daß es die ganze Gasse hören 
konnte: „Heut' geh' ich zum Herrn Paten! Heut' geh' ich zum 
Herrn Paten!“ Ungehalten über den argen Schreihals, wollte sein 
Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster auf— 
bringen konnte, war der kleine Sänger schon zum Tempel hinein und 
— kehrte nach einigen Augenblicken als Friedensbote wieder zurück. 
Statt des Olzweigs hatte er einen geschenkten Eierring in der Hand 
und rief, über die Schwelle in die Stube hereinstolpernd: „Der Herr 
Pate läßt Vater und Mutter recht schön grüßen, und ich soll bald 
wiederkommen.“ 
5. Noch an dem nämlichen Abende wechselten die Nachbarsleute 
einige freundliche Worte über die Gasse, am folgenden saßen die weiße 
und gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen, am dritten
	        
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