Odysseus.
123
bon seinem Besitze zu prassen, bis Telemachos aus Furcht vor gänz—
licher Verarmung genötigt sein würde, die standhafte Mutter mit Ge—
walt aus dem Hause zu stoßen und sie dadurch zu einer zweiten Heirat
zu zwingen. Seit dieser schändlichen Verabredung waren die Hallen
im Hause des Odysseus von früh bis in die Nacht mit den ungebetenen
Gästen gefüllt, die alle Diener des Königs zu ihrem Willen zwangen,
von dem fremden Gute an sich rissen, was ihnen beliebte und mit
rohem Spott und Gelächter die schwachen Besitzer verhöhnten. Der
Reichtum der Herden nahm sichtbar ab, die Fülle des Kornes und
Weines schwand, und niemand war, der den übermütigen Räubern Ein—
halt getan hätte. Penelope saß oben in ihrem Gemache am Webe—
stuhle und weinte; Telemachos wurde, so oft er sich unter der anmaßen—
den Schar sehen ließ, ausgelacht und verspottet.
2. Kalypso.
Ein Gott hatte über Odysseus' Haus solches Weh gesandt. Posei—
don, der Beherrscher des Meeres, zürnte dem Helden; denn er war
schwer von ihm beleidigt worden. Daher hatte er ihn von Nord nach
Süd, von Ost nach West auf dem weiten Meere umhergepeitscht, seine
Schiffe zertrümmert, seine Gefährten getötet und ihn durch Strudel
und Klippen zu Völkern geführt, deren Sitte und Sprache ihm fremd
waren. Jetzt, während seine Habe von frechen Nachbarn verzehrt ward,
saß er weit von der Heimat gefangen auf einer einsamen Insel, wo
eine Göttertochter, Kalypso, herrschte, die ihn nicht entlassen wollte, da
sie ihn zum Gemahl begehrte. Er aber, immer eingedenk des teuren
Vaterlandes, ging täglich hinaus an das Gestade, setzte sich wehmütig
nieder bei der Brandung und wünschte nichts weiter, als nur einmal
noch den Rauch von seinem Hause aus der Ferne aufsteigen zu sehen
und dann ruhig zu sterben.
Das rührte endlich die Götter im hohen Olymp und vor allen
seine Freundin Athene. Auf Zeus' Befehl sollte Hermes sich nach
Ogygia begeben, um der Kalypso den Befehl der Götter zu bringen,
daß sie den Gefangenen entlasse. Der Götterbote band die schönen
goldenen Sandalen unter die Füße, mit denen er leicht wie ein Vogel
die Luft zu durchschweben vermochte, nahm dann den Schlangenstab in
die Hand, mit dem er Menschen töten und wieder erwecken konnte, und
flog schnellen Schwunges durch die Lüfte über die weite Meeresfläche
hin. Alsbald stand er auf der entlegenen Insel, wo die schöne Kalypso
wohnte. Er freute sich der reizenden Behausung, die so anmutig ver—
steckt zwischen Erlen, Pappeln und immergrünen Cypressen lag In
dem dichten, dunklen Laube nisteten gesangreiche Vögel, und den Ein—
r der hochgewölbten Felsengrotte umrankten Reben, mit purpurnen
Trauben prangend. Weiterhin dehnten sich üppige Wiesen, von vier