Full text: (Für das 4. und 5. Schuljahr) (Teil 2, [Schülerband])

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schlüpfen, so könnt Ihr ein alter Mann werden,“ und lächelte dazu. 
Aber der reiche Fremoͤling sagte: „Herr Doktor, Ihr seid ein feiner 
Kauz, und ich versteh Euch wohl,“ und hat nachher dem Rat ge⸗ 
folgt und 87 Jahre, 4 Monate, 10 Tage gelebt, wie ein Fisch im 
Wasser so gesund, und hat alle Neujahr dem Arzt 20 Dublonen zum 
Gruß geschickt. Johann Peter Hebel. 
36. Der Weinkauf. 
1. Früher war es Sitte, daß bei jedem Kaufe der Käufer dem 
Verkäufer einen Trunk zur Bestätigung des Kaufes reichen mußte; 
das nannte man „den Weinkauf trinken“, und mancher Verkäufer 
suchte, wenn er zu billig verkauft zu haben glaubte, seinen Schaden 
wenigstens einigermaßen auszugleichen, indem er von dem Käufer, 
der ihn mit zur Trinkstube nahm, einen möglichst großen Wein— 
kauf zu erlangen strebte. 
2. Man sollte nun zwar nicht meinen, daß mit dem Weinkauf ein 
ganzes Bauerngut vertan werden könnte, und doch ist es einst der 
Fall gewesen. Das ging so zu. 
3. Ein Bauersmann litt beständig an großem Durst, und sein 
Weib hatte dieselbe Krankheit. Ihren gewaltigen Durst zu befrie— 
digen, tranken sie nicht selten so viel, daß die Nachbarn schon an 
ihrem Gange merken konnten, wie viel sie getrunken hatten. 
4. Da redete einst der Pfarrer dem Hans ins Gewissen und 
sprach unter anderem: „Du meinst wohl, weil unter den zehn Ge— 
boten keins ist, welches lautet: „Du sollst dich nicht betrinken,“ so 
sei es einem Christen erlaubt, zuweilen einen Rausch sich anzutrinken; 
damit irrst du aber gewaltig, und wenn du dich nebst deinem Weibe 
nicht besserst, so werdet ihr beide einst des Teufels Genossen sein.“ 
5. Solche Rede ging dem Hans ins Herz, und als er nach Hause 
kam, tat er mit seiner Liese das feierliche Gelübde, niemals mehr 
einen Schoppen zu trinken außer beim Weinkauf, wo es ja der 
Brauch erforderte. 
6. Das Gelübde war getan und wurde fast vierzehn Tage streng 
gehalten. Da aber ward der Durst schier unüberwindlich, und wie 
dereinst im Paradiese, so verführte auch hier die Frau den Mann mit 
klugen Reden. „Hans,“ sprach sie, „ich rate dir, mir deinen Ochsen 
zu verkaufen.“ Merkwürdig schnell begriff der Mann, daß hier ein 
guter Handel zu machen sei; der Kauf ward geschlossen und mit einem 
lüchtigen Weinkauf besiegelt. Schon am nächsten Tage aber kaufte 
Hans den Ochsen von seinem Weibe zurück, und wieder gab es einen 
stattlichen Weinkauf. 
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