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179. Geschichte.
1.
Die Jugend liest die Geschichte nur aus Neugierde, lute ein un¬
terhaltendes Märchen; dem reiferen Alter wird si'e eine himmlische,
tröstende und erbauende Freundin, die durch ihre weisen Gespräche
sanft zu einer höheren, umfassenden Laufbahn vorbereitet und mit
der unbekannten Welt in faßlichen Bildern bekannt macht. Die
Kirche ist das Wohnhaus der Geschichte, und der stille Friedhof ist
der sinnbildliche Blumengarten derselben. Von der Geschichte sollten
nur alte gottesfürchtige Leute schreiben, deren eigene Geschichte
selbst zu Ende ist, und die nichts mehr zu hoffen haben, als die
Verpflanzung in den Garten. Nicht finster und trübe wird ihre
Beschreibung sein; vielmehr wird ein Strahl aus der Kuppel alles
in der richtigsten und schönsten Erleuchtung zeigen, und heiliger Geist
wird über diesen seltsam bewegten Gewässern schweben.
2.
Es ist Zu bedauern, daß so viele, die sich mit der Aufzeichnung
der Thaten und Vorfälle ihrer Zeit befassen, nicht über ihr Ge¬
schäft nachdenken und ihren Beobachtungen keine Vollständigkeit
und Ordnung zu geben suchen, sondern nur aufs Gerathewohl bei
der Sammlung und Auswahl ihrer Nachrichten verfahren. Ein jeder
wird leicht an sich bemerken, daß er nur dasjenige deutlich und
vollkommen beschreiben kann, was er genau kennt,' dessen Theile,
dessen Entstehung und Folge, dessen Zweck atnb Gebrauch ihm gegen¬
wärtig sind; denn sonst wird keine Beschreibung, sondern ein ver¬
wirrtes Gemisch von unvollständigen Bemerkungen entstehen. Man
lasse ein Kind eine Maschine, einen Landmann ein Schiff beschrei¬
ben, und gewiß wird kein Mensch ans ihren Worten einigen Nutzen
und Unterricht schöpfen können; und so ist es mit den meisten
Geschichtschreibern, die vielleicht fertig genug im Erzählen und bis
zum Ueberdrusse weitschweifig sind, aber doch gerade das Wissens¬
würdigste vergessen, dasjenige, was erst die Geschichte zur Geschichte
-nacht und die mancherlei Zufälle zu einem angenehmen und lehr-
' reichen Ganzen verbindet. Wenn ich das alles recht bedenke, so'
scheint es nur, als tvenn ein Geschichtschreiber nothwendig auch ein
Dichter sein müßte; denn nur die Dichter mögen sich auf jene Kunst,
Begebenheiten schicklich zu verknüpfen, verstehen. In ihren Erzäh¬
lungen und Fabeln habe ich mit stillen: Vergnügen ihr zartes
Gefühl für den geheimnißvollen Geist des Lebens bemerkt. Es ist
wehr Wahrheit in ihren Märchen, als in gelehrten Chroniken. Sind
twlch ihre Personen und deren Schicksale erfunden, so ist doch der
Sinn, in welchem sie erfunden sind, wahrhaft und natiirlich. Es
sst für unseren Genuß und für unsere Belehrung gewisser Maßen
einerlei, ob die Personen, in deren Schicksalen wir den unsrigen
nachspüren, wirklich einmal lebten oder nicht. Wir verlangen nach