77. Der Sperling.
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hieß das Mädchen — brach das Blümchen und betrachtete es mit Freude
und küßte es und roch daran und konnte nicht aufhören, es zu preisen.
Aber bald wurde sie alles dessen überdrüssig und satt. Sie verlangte
noch größere Freude an dem Blümchen zu haben und steckte es in den Mund
und wollte es essen.
Aber was folgte nun? Minna kam in vollem Laufe zur Mutter und
weinte und rief: „O liebe Mutter, das Blümchen war so schön von Gestalt
und Farbe, und da aß ich es; aber nun ist es so bitter, daß es mir inwen⸗
dig den Mund ganz kraus ziehet. O, pfui der bösen, häßlichen Blumen!“
So sagte das Mägdlein. Aber die Mutter antwortete und sprach:
„Mein liebes Kind, waruüm schmähest du die Blümchen? Sie sind doch noch
immer so schön von Gestalt und Geruch; ist das nicht viel und genug? Man
ißt ja auch die Blümchen nicht.“ (Krummacher.)
77. Der Sperling.
D Spatz gehört zu den Gassenbuben unter den Vögeln. Er sieht auch
danach aus. In seinem dicken Kopfe stehen ein Paar rohe, freche Augen,
denen man sogleich ansieht, daß er sich um keinen Menschen bekümmert und
daß es ihm einerlei ist, was man von ihm denkt. Zucht und Ehrgefühl kennt
er nicht. Zu seinem dicken Kopfe paßt ganz sein plumper Schnabel und sein
freches Geschrei. Er giebt sich nicht die geringste Mühe, anständig zu singen,
sondern schreit in den Tag hinein, wie es ihm in die Kehle kommt.
Sein Anzug paßt ganz zu seinem Wesen, und Eitelkeit kann man ihm nicht
vorwerfen. Gewöhnlich trägt er eine grobe, graue Jacke, auf welcher man nicht
leicht Schmutzflecke sehen kann, und er treibt sich damit auf dem Miste, im Kot, in
Lachen und auf den Feldern herum. Händel hat er mit seinen Kameraden alle
Augenblicke, und dabei giebt es ein Geschrei, daß man es im ganzen Dorfe hört.
Er drängt sich überall herbei und macht sein Nest, ohne dich um Erlaub—
nis zu fragen, zwischen dem Laden und dem Fenster deines Zimmers; von
dort blickt er dreist hinein, um zu sehen, was du machst. Die Schwalbe treibt
er aus ihrem Neste und pflanzt sich mit seiner Brut hinein. Jeder Platz ist
ihm zum Brüten recht. Und zum Bau des Nestes kann er alles brauchen:
alte Lumpen und seidene Läppchen, Papierstreifen, kurze und lange Hälmchen,
Fäden und Federn — alles weiß er zu benutzen.
Überall hat er seine Augen, wo es etwas zu fressen oder zu naschen
giebt. Hält ein Fuhrmann mit seinen Pferden vor einem Wirtshause, und
der Hausknecht bringt den Futtertrog, so ist auch mein Spatz schon da und
holt sich seinen Teil Hafer oder Brot. Kommt die Köchin mit einem Teller
voll Leckerbissen, um damit ihre lieben Hühner zu füttern, so läßt der Spatz
gewiß nicht auf sich warten; er kennt die Zeit genau, in welcher sie in den
Hühnerhof geht. Jagt sie ihn weg, so fliegt er kaum einen Schritt beiseite,
und man merkt ihm nicht die geringste Verlegenheit an. Kaum aber hat sie
den Rücken gewendet, so ist er wieder da.
Fangen die Kirschen an sich zu färben, so holt sich der Spatz eine Probe
davon, und es fällt ihm nicht ein, um Erlaubnis zu fragen. Er benimmt sich,
als ob die Kirschen für ihn allein gewachsen wären. Sind sie erst reif, so