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211. Unterm Dache.
1. Neulich war Gustchen Möller bei uns, weil mein Geburtstag war
Wir wohnen im fünften Stock. Als Gustchen ankam, sagte sie: „Oha!“
Ich fragte sie: „Warum sagst du oha?“
Gustchen nickte mit dem Kopfe
„Weil ihr fünf Treppen hoch wohnt. Meine Mama sagt schon oha!,
wenn sie drei Treppen raufgeht.“
Als wir Kaffee getrunken und Kuchen gegessen hatten, guckten wir
aus dem Fenster. Zuerst fing Gustchen an zu schreien und hielt sich an
meinem Kleide fest.
„Was ist da los?“ fragte ich.
„Weil ihr so hoch wohnt! Da wird man ja ordentlich schwindlig.
Ich möchte da nicht runterfallen!“ Sie zeigte auf die Straße hinunter.
„Nein, hinunferfallen möchte ich auch nicht. Aber das tut ja auch
nicht nötig“, sagte ich. Gustchen war ein bißchen komisch. Ich mußte
über sie lachen.
2. „Hier sieht es gelungen aus!“ sagte sie, „nichts als Dächer und
Dächer und Schornsteine und Schornsteine.“ Als Gustchen das sagte,
fiel es mir erst selber auf. „Ja, das ist wahr, Leute sieht man beinahe
gar nicht bei uns, aber desto mehr Schornsteine.“ Gustchen fand es bald
fehr schön bei uns. „Einige Dächer sind rot, die sind gewiß neu. Die
schimmligen grauen da drüben müßten mal abgeseift werden! Guck, da
kommt Rauch aus den Schornsteinen! Blauer, gelber, schwarzer Rauch!
Das hab' ich auch nicht gewußt, daß der Rauch verschiedene Farbe hat!
Guck, wie das wirbelt!“
Krah! krah! schrie es plötzlich. Gustchen fuhr vom Fenster zurück.
Da flog gerade über die Dächer eine blanke, schwarze Krähe weg, und
dann kam sie zurück und setzte sich auf eine rote Dachpfanne. „Du, sie
guckt uns so merkwürdig an!“ sagte Gustchen und kniff mich in den Arm.
Die Krähe hatte eigentlich ein lächerliches Gesicht. Ganz frech saß sie da
und starrte in unser Fenster.
Mit einem Male schrie Gustchen: „Die Katze! guck die Katze!“ In der
Dachrinne vor uns, ganz dicht, saß eine große, gelbe Katze mit schwarzem
Schwanz und weißen Pfoten. Sie hatte sich ganz zusammengeduckt, sie rührte
sich nicht, nur der Schnurrbart zitterte und der dicke, schwarze Schwanz.
„Die lauert!“ sagte Gustchen.
Jetzt fingen eine Menge Sperlinge an zu piepen, zu flattern, mit
den Flügeln zu schlagen. Sie flogen um die Katze, pickten von oben
nach ihr, schrien und schalten. Und die Krähe schrie mit: Krahl krah! krah!