Full text: [Teil 1 = Mittelstufe, [Schülerband]] (Teil 1 = Mittelstufe, [Schülerband])

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Die mannshohen Roggenhalme, die von einem sanften Winde leise 
bewegt wurden, erregten zuerst meine Bewunderung. Ich Iprach 
bei mir selbst Welch ein Wunder Gottes ist doch so ein Roggeñ— 
halm! Schlank und hoch wie ein Mann steht er da und trägt 
eine lange, schöne Ähre, die jetzt zwar noch leicht ist und aufrecht 
steht, nach wenigen Wochen aber, mit schweren, mehlreichen Körnern 
angefüllt, sich neigend zur Erde beugt. Hohl wie ein Rohr, kaum 
halb so dick wie ein Federkiel ist er doch stark genug, die schwere 
Ahre zu tragen und dazu manchmal noch starke Windstöße auszu⸗ 
halten und Regengüssen zu widerstehen. Das kommt hauptsächlich 
daher, daß er nicht steif und stolz sich erhebt, nicht trotzig sich 
entgegenstellt, wenn Stürme sich ihm nahen, sondern daß er sich 
zu neigen und zu beugen weiß, ohne zu brechen. Tritt herzu, du 
Menschenkind, und lerne von diesem Roggenfelde, wie du allein recht 
groß und stark werden kannst durch die Demut! 
Meine Betrachtung war noch nicht zu Ende. Die blühenden 
Ähren zogen jetzt meine Aufmerksamkeit auf sich. Aus den steifen 
Hüllen drangen je drei längliche Beutelchen hervor, angefüllt mit 
dem feinen Blütenstaub, der überall da nötig ist, wo Frucht- 
körnlein entstehen sollen. Jene Beutelchen hingen an sehr feinen 
Fädchen, Staubfäden genannt, und das leiseste Lüftchen wehte sie 
hin und her. Ich gab genau acht auf die Staubbeutelchen, wie 
sie aus den Hüllen hervorbrachen, und wie sie alsbald auch 
zerbarsten und sich leerten. Den herausfallenden Blütenstaub zerrieb 
ich zwischen den Fingern, und es kam mir vor, als bestehe er 
aus lauter kaum sichtbaren Körnchen von ölichter Beschaffenheit. Ich 
dachte; Wie wunderbar bereitet doch der liebe Gott das nahrhafte 
Brot für uns arme Menschenkinder! Wären diese fast unsichtbaren 
Nörnchen des Blütenstaubs nicht, oder fehlte sonst etwas, das zum 
Wachstum der Getreidekörner noch nötig ist, kein Mensch äße 
Brot auf Erden. Nun aber läßt Gott alle Jahre neben den 
Gräsern für das Vieh auch das Getreide für die Menschen, ein 
jegliches nach seiner Art, aufwachsen, und seine Verheißung bleibt 
wahr, daß nicht aufhören soll Samen und Ernte.
	        
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