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3. Dieser Nebel drückt mich nieder,
der die Sonne mir entfernt,
und die alten, lust'gen Lieder
hab ich alle fast verlernt.
Immer in die Melodien
schleicht der eine Klang sich ein:
in die Heimat möcht ich ziehen,
in das Land voll Sonnenschein.
4. As beim letzten Erntefeste
man den großen Reigen hielt,
hab ich jüngst das allerbeste
meiner Lieder aufgespielt.
Doch wie sich die Paare schwangen
in der Abendsonne Gold,
sind auf meine dunkeln Wangen
heiße Tränen hingerollt.
5. Nein! des Herzens sehnend Schlagen,
länger halt ich's nicht zurück;
will ja jeder Lust entsagen,
laßt mir nur der Heimat Glück!
Fort zum Süden! Fort nach Spanien,
in das Land voll Sonnenschein!
Unterm Schatten der Kastanien
muß ich einst begraben sein.
Emanuel Geibel.
324. Ebbe und Flut.
1. Ein merkwürdiges Schauspiel bietet an der Küste von Holland
die täglich zweimal eintretende Ebbe und Flut. Wir waren von
Antwerpen mit der ausströmenden Ebbe abgefahren, und unser
Schiff schoß rasch mit den ablaufenden Gewässern des Flusses und des
Meeres zur Schelde hinaus. Alle Gewässer waren in Bewegung;
aus allen Kanälen, Gräben und Zweigadern des Landes strömte es
heraus wie in den Straßen einer Stadt nach einem heftigen Regen.
Es war ein Schauspiel, wie es Noe am Ende der Sündflut sah.
Überall wuchsen trockene Länder aus dem Meere hervor und nahmen
zusehends an Umfang zu. Jede Insel, an der wir vorbeifuhren, um—
gab sich mit einem breiten Gürtel von Vorland, das sich sofort mit
Menschen bevölkerte, die den Krabben und andern im Schlamme
zurückgebliebenen Seetieren nachstellten. Man bezeichnete uns im
Schlamme die Stellen, wo einst blühende, jetzt vom Meere ver—
schlungene Orte gestanden haben. Gewöhnlich wird der Wasser—
spiegel durch die Ebbe um 425 m erniedrigt, und es scheinen dann
die Seedeiche, die Brücken und Pfahlreihen der Häfen riesenhoch zu
wachsen.
2. Die Fahrt in unserm Inselmeer bis Rotterdam dauerte
zwölf Stunden. Wir wurden daher unterwegs auch wieder von der